„Im Wort Geheimnis steckt das Wort ‚Heim‘, die Heimat. Zum Geheimnis gehört die Verborgenheit. Wer ein Geheimnis lüftet, der zerstört es. Der Sinn der Geheimnisse besteht nicht darin, dass wir sie verstehen, sondern dass wir sie bewohnen.“ (Raimer Gronemeyer)
Heutzutage scheinen wir weitgehend den Sinn für das Geheimnisvolle verloren zu haben. Die Naturwissenschaft, sofern sie leugnet, dass es etwas gibt, das der Verstand nicht entdecken und nicht entschlüsseln kann, hat großen Anteil an diesem Phänomen. Die Naturwissenschaften liefern uns tatsächlich viele Erklärungen über Dinge, die wir früher als geheimnisvoll empfanden und für unerklärlich hielten. Doch manchmal sind diese Erklärungen zu oberflächlich und zerstören das Geheimnis. Liebe wird erklärt als ein bestimmter chemischer Prozess im Gehirn, Anziehung zwischen den Geschlechtern wird als ein Spiel der Hormone dargestellt, das Weltall soll durch einen Urknall entstanden sein, hinter dem keine Intelligenz steht. Hier werden Vorgänge rein verstandesmäßig erklärt, sie sind nicht falsch, aber sie sind einseitig, wenn sie am Sichtbaren hängenbleiben. Die Wahrheit liegt tiefer.
Der Verstand möchte verstehen, der Verstand hat ein tiefes Bedürfnis danach, Unerklärliches erklärt zu bekommen, Rätselhaftes zu entschlüsseln, das Geheimnis zu lüften. Der Verstand stellt Warum-Fragen. Sie sind sinnvoll, aber manchmal gibt es keine Antwort darauf, zumindest keine sicheren Antworten. Löst sich der Verstand von Gefühl und Intuition los, kann man ihn als die Instanz in uns bezeichnen, die dem Selbst am weitesten entfernt ist. Das Selbst ist ein Geheimnis. Wenn wir das Geheimnisvolle achten, kommen wir in die Nähe des Selbst. Die Naturwissenschaft wird das Selbst nie entschlüsseln können und versucht es auch nicht, weil für sie ein unsichtbares, nicht direkt wahrnehmbares, ewiges Selbst sowieso nicht existiert. Über das Selbst sagt Paul Brunton: „Hinter dem Menschen, den wir sehen, lebt ein anderer Mensch, den wir nicht sehen, hinter dem fleischlichen Körper strahlt ein leuchtendes, erhabenes Bewusstsein. Diese Lehre vom wahren Ich im Menschen wird von einem alten indischen Seher wunderbar ausgedrückt: ‚Ungesehen, aber sehend; ungehört, aber hörend; unbeachtet, aber beobachtend; unbekannt, aber wissend: Das ist dein Ich, der Herrscher in deinem Innern, das Unsterbliche in dir.‘ “
Das Selbst (die Seele in ihrer Tiefe) kann also nicht gesehen, gehört oder beobachtet werden. Unsere westliche Lehre von der Seele, die Psychologie, ist im Gegensatz zur altindischen Seelenlehre ganz anderer Art. In der vom Geheimnisvollen befreiten Psychologie der Anfangszeit, also der Psychologie Sigmund Freuds, ging es auch immer um die Frage „Warum“. Warum hat der Mensch diese und jene Störung? Freud glaubte, wenn wir herausfinden, warum wir so und so reagieren, d.h. wenn wir die Ursachen unserer seelischen Probleme und Störungen in der Kindheit finden, dann werden wir geheilt sein. Es hat sich aber längst herausgestellt, dass Menschen, die eine jahrelange Psychoanalyse gemacht haben, zwar ein dickes Buch über die Ursachen ihrer Traumata und Störungen schreiben könnten, aber dass meist von Heilung oder Änderung wenig spürbar ist. Alles Erkannte ist überwiegend im Kopf hängen geblieben. Natürlich sind bei seelischen Problemen Warum-Fragen nicht sinnlos, denn sie zeigen ja Wege zur Heilung auf. Aber Ursachenklärungen allein heilen nicht.
Wir fragen oft auch nach dem Warum der Geschehnisse in unserem Leben, vor allem, wenn es sich um leidvolle Geschehnisse handelt. Zwar können wir alles, was uns geschieht, als einen Lernprozess auffassen, das hilft uns, Leidvolles besser zu ertragen, aber warum kam genau das und nicht etwas Anderes in unser Leben? Wir wissen es nicht. Wir können es mit Karma erklären. Aber wenn dem so ist, bleibt es eine trockene Erklärung, die nicht nährt, weil sie nicht erlebt wird. Es kann hierbei heilsam sein, die Warum-Fragen aufzugeben und das Unerklärliche als etwas Geheimnisvolles zu akzeptieren.
Der Verstand kann zwar vieles erklären, aber gerade dadurch kann er auch vieles kaputt machen. Der Verstand betätigt sich oft als ein Zerstörer des Geheimnisvollen. Vor einiger Zeit sah ich die Abbildung eines wundervollen, geheimnisvollen Gemäldes einer bulgarischen Malerin in einer Zeitschrift. Das Bild traf mich wie ein Pfeil ins Herz. Es öffnete mein Herz, ich war glücklich, es anzuschauen, ich spürte das Geheimnisvolle. Dann aber las ich den Text, der unter dem Bild stand. Dieser Text erklärte das Bild. Ich sah das Bild wieder an und es gefiel mir nicht mehr, es sagte mir nichts mehr. Der magische Augenblick war zerstört, das Geheimnis war zerstört.
Wenn ich bei meinen Vernissagen eine Rede halte, erwarten manche Besucher oder auch die Vertreter der Institution, in der ich meine Bilder ausstelle, dass ich das eine oder andere Bild erklären werde. Ich deute höchstens etwas an und spreche stattdessen darüber, wie man in sich die Voraussetzung schafft, das Geheimnisvolle in einem Bild wahrzunehmen, um die Seele berühren zu lassen. Und wem ich damit aus der Seele gesprochen habe, der ist dankbar, dass ich keine Bildinhalte erklärt habe, dass ich kein Geheimnis zerstört habe, sondern dass der Betrachter nun auf sich selber zurückgeworfen worden ist. Und auch für mich selbst sind meine Bilder in ihrer Gesamtheit und in ihrem Ursprung nicht erklärbar.
Das Geheimnis ist auch etwas anderes als ein Rätsel. Ein Rätsel will und soll gelöst werden, ein Geheimnis soll bewahrt werden. Wobei hier nicht vom Geheimnis im Sinne des Verschweigens einer Wahrheit die Rede ist. Es gibt z. B. so manche Familiengeheimnisse, die belastender auf die ganze Familie wirken, solange sie nicht gelüftet werden. Dann hat das Verschweigen der Wahrheit eine besonders negative Kraft, die immer irgendwie in der Atmosphäre mitschwingt, weil man das Unbewusste der Menschen, vor denen man etwas verbirgt, nicht betrügen kann. Wenn ich hier vom Geheimnisvollen spreche, meine ich also nicht das Verschweigen einer Wahrheit, die eigentlich offengelegt werden sollte, sondern ich meine das Geheimnisvolle einer unerklärlichen, unaussprechlichen Wirklichkeit, die man Gott oder Seele nennen kann.
Das Geheimnis rührt die Seele an. Das Geheimnisvolle hat Magie. Magie macht unser Leben schön. Das Geheimnis gibt uns Geborgenheit und Heimat. Im Wort Geheimnis ist das Wort „Heim“ versteckt. Wir alle kennen Menschen, die ganz stark vom Verstand dominiert werden, sie wirken immer kühl. Man spricht ja auch vom kühlen Verstand. Bei Menschen, die ihre Gefühle verstecken und unterdrücken, fühlen wir uns nicht geborgen, wir fühlen uns bei ihnen nicht beheimatet. In einem Gespräch, bei dem es um Wissensvermittlung geht, bleibt alles im Kopf hängen und es geschieht nichts Geheimnisvolles. In einem Zusammensein, bei dem man gegenseitig die Seele öffnet, vielleicht sogar nur durch einen Blick, aus dem die Seele herausscheint, da kann etwas Geheimnisvolles geschehen. Und wir fühlen uns daheim.
Wenn es den Menschen heutzutage aufgehen würde, dass das Geheimnis ihrem Leben inneren Reichtum und Geborgenheit geben könnte, würden sie das Geheimnisvolle nicht durch Banales ersetzen wollen. Aber wo wir uns umschauen, fällt auf, dass man das, was einem innerlich abhandenkam, durch Äußeres zu füllen versucht. Es ist, wie der Philosoph Raimer Gronemeyer sagt: „Im Wort Geheimnis steckt das Wort ‚Heim‘, die Heimat. Zum Geheimnis gehört die Verborgenheit. Wer ein Geheimnis lüftet, der zerstört es. Der Sinn der Geheimnisse besteht nicht darin, dass wir sie verstehen, sondern dass wir sie bewohnen. Inmitten einer unheimlichen Welt im Geheimnis daheim zu sein, das nannte die Menschheit in alter Tradition des Betens und Klagens: Himmel.“
Gronemeyer sagt, dass Menschen, die früher in den Himmel blickten, das Gute und Schöne darin wahrnahmen. Heute sehen Menschen, die rein naturwissenschaftlich ausgerichtet sind, in einen Friedhof, wenn sie zum Himmel aufblicken, denn die Wissenschaft sagt, dass das meiste, das wir da sehen, das Licht längst erloschener Sterne ist. Gronemeyer sagt weiter: „Es sieht so aus, als hätten wir den Himmel endgültig verloren… Müssen wir uns abfinden mit der Lage, dass wir in einer von der Naturwissenschaft dominierten Welt leben, in der für …. Kindereien kein Platz mehr ist?… Meister Eckhart hat den Gedanken (Jesu) fortgeführt, dass der Himmel jederzeit da sein kann, in uns da sein kann… Nur wer sich von der Arroganz, der Illusion des Habens, des Besserwissens löst, hat die Möglichkeit, den Himmel wieder zu entdecken. Der Himmel ist ein Licht, das kommt… Der Himmel steht uns nicht zur Verfügung, ist kein Arbeitsergebnis, sondern – Geschenk. Nicht wir finden den Himmel, sondern der Himmel uns… Der Himmel ist ein Geheimnis.“
Empfehlung für den Alltag – Kerzenmeditation
Zünde eine (weiße) Kerze an. Blicke eine Weile in die Flamme (etwa eine Minute). Achte dabei auf deinen ganz natürlichen Atemfluss.
Schließe die Augen und stelle dir die Kerze mit Flamme in Deiner Brustmitte vor.
Stattdessen kannst du dir auch vorstellen, dass sich die Flamme im Kelch einer Lotosblüte (Seerose) in deinem Herzen befindet. Achte dabei weiter auf deinen Atem.
Diese Meditation bringt dich wieder in die Mitte, wenn du aus deiner Mitte gefallen bist, wenn du also die Fassung aus irgendeinem Grund verloren hast. Du kannst die Übung fast überall machen. Dazu brauchst du keine reale Kerze als Einstieg, sondern, wo immer du auch bist, wenn dir danach zumute ist oder wenn du das Gefühl hast, dass du nicht in Deiner Mitte bist, achtest du auf deinen Atem, stellst dir dann die Kerze mit Flamme oder eine Lotosblume mit Flamme in der Brustmitte vor. Dazu brauchst du auch nicht unbedingt deine Augen zu schließen, sondern di lässt die Augen geöffnet mit einem nicht-fixierenden Blick. Besonders geeignet ist diese Übung, wenn man in einer Warteschlange steht. Diese und jegliche Form von Mediation sollte aber nicht gemacht werden, wenn man am Steuer sitzt (außer wenn man im Stau steckt).
In die Mitte kommen wir auch, indem wir ein paar Minuten einfach dem ganz natürlichen Atemfluss folgen, auch ohne irgendeine bildliche Vorstellung.