In Berührung mit der Seele kommen

„Wir verlangen geradezu exzessiv nach Unterhaltung, Macht… und materiellen Dingen, und wir glauben, dass wir das alles finden, wenn wir die richtige Beziehung oder den richtigen Job, die richtige Kirche oder Therapie entdecken. Doch ohne Seele wird, was immer wir finden, unbefriedigend sein. Denn wonach wir uns wirklich sehnen, das ist die Seele in allen diesen Bereichen. Solange dieses Beseeltsein fehlt, versuchen wir, diese verlockende Befriedigung in großen Mengen zu erlangen, und glauben dabei offensichtlich, dass die Menge den Mangel an Qualität ersetzt.“ (Thomas Moore)

Heute hört man kaum noch das Wort „Seele“. Man verwendet es allenfalls, wenn von seelischen Störungen gesprochen wird. Meist ersetzt man dann die Bezeichnungen „Seele“ oder „seelisch“ mit „Psyche“ oder „psychisch“, das bedeutet zwar auch Seele, aber es klingt weltlicher, wissenschaftlicher. Diese Gewohnheit rührt wohl daher, dass die Seele vielfach als etwas Ewiges verleugnet wird, dass man nicht mehr an ihre Existenz glaubt bzw. dass man davon ausgeht, die Seele wäre nur ein Produkt des Gehirns, wie uns der weit verbreitete Materialismus einreden will, sie wäre also ein Produkt der Materie und nicht umgekehrt. Spirituelle Traditionen sagen uns jedoch, dass der Geist zuerst da war und das Materielle aus ihm heraus entstanden ist.

Die Seele hat keinen Ort, sie ist geheimnisvoll, weil sie sich verborgen hält. Sie macht sich bemerkbar, wenn sie schmerzt, und sie schmerzt, weil sie vernachlässigt oder schlecht behandelt wurde oder weil uns etwas Schweres aufgebürdet wurde. Außerdem macht sie sich durch Träume und Intuitionen bemerkbar, aber viele Menschen nehmen diese Phänomene nicht ernst.

Der amerikanische Psychotherapeut Thomas Moore spricht ganz bewusst immer wieder von der Seele. In seinem Buch „Seel-Sorge“ (Originaltitel „Soul Care“) geht es um die Pflege der Seele, bei der Spiritualität unbedingt miteinbezogen werden muss. Obwohl Thomas Moore selbst Psychotherapeut ist, kritisiert er die meisten Formen von Psychotherapie, die sich um Anpassung an bestimmte Maßstäbe, an gesellschaftliche Normen und um das Ego kümmern, aber die Seele vernachlässigen, indem sie Spiritualität ausklammern. Nach herkömmlichen Therapien soll der Mensch normal werden, es geht um das Reparieren und Ändern in Richtung Symptomfreiheit. Da kann es geschehen, dass man auf der Stelle tritt, oder dass nach einer Linderung der Symptome nach Jahren neue, andere Symptome auftauchen. Denn es ist eine Illusion, dass der Mensch symptomfrei, frei von Leid und normal sein könnte. Was heißt eigentlich „normal sein“? Wer definiert es? Kein Mensch ist normal.

Wie könnte es auch anders sein? Wir stammen alle aus Familien, die nicht normal waren. Heutzutage spricht man von dysfunktionalen Familien, so als ob sie die Ausnahme wären. Doch sie sind die Regel, sagt Thomas Moore, und das entspricht auch meiner Erfahrung, obwohl es hier natürlich graduelle Unterschiede gibt. Was ist eine dysfunktionale Familie? Mindestens ein Mitglied zeigt ein gestörtes, schädigendes Verhalten.  Vielleicht spielt Sucht eine Rolle oder Gewalt, auch psychische Gewalt. Die Beziehungen untereinander sind gestört. Vielleicht sieht die Familie nach außen gesund aus, erscheint sogar wie aus dem Bilderbuch herausgenommen, aber dahinter verbergen sich vielleicht gravierende Probleme. Und wie könnte es anders sein, da die Gesellschaft krank ist, da die Welt krank ist? Die Familie ist eingebettet in die Gesellschaft, und wir sind eingebettet in die Familie. Die Familie ist das Spiegelbild der Welt, und in uns selbst spiegelt sich unsere Familie und somit die Welt. Nicht nur Familiensysteme sind allzu oft dysfunktional, auch berufliche Teams sind es. Wenn man ein Kollegium hat, das miteinander einigermaßen harmoniert, dann ist das ein großer Glücksfall. Die Krankheit der Welt spiegelt sich überall wider und bis in die politische Ebene hinein, da sogar am stärksten. In dieser Welt leben wir, und sie macht es uns schwer, mit unserer Seele in Berührung zu kommen.

In früheren Jahrzehnten wurde die Familie oft als Hort der Geborgenheit romantisiert, und heute spricht man häufig abfällig über sie. Man hält sie für schwierig, und das ist sie auch. Wenn man nicht weiß, dass Familiensysteme genauso wie andere soziale Gruppen mehr oder wenig gestört sind, führt das entweder zur Idealisierung der eigenen Familie, nämlich, indem wenn man diese Schwierigkeiten verleugnet, oder sie führt zur Ablehnung, wenn man glaubt, man wäre ausnahmsweise in eine dysfunktionale Familie hineingeboren worden. Eine realistische Sicht der eigenen Familie kann dazu führen, dass man im Frieden mit dem eigenen Schicksal ist.

Ich sagte, dass die Familie ein Spiegelbild der Welt ist. Die Welt ist gut und böse. Noch nie gab es eine heile Welt, und sie wird trotz aller Bestrebungen nie heil sein können. Die Gesellschaft war immer krank. Im Moment scheint sie mir kranker denn je zu sein, und das Krankhafte wird sich sicherlich noch ausweiten. Doch gehen wir zurück zum einzelnen Menschen.

In den Köpfen vieler Menschen gibt es Vorstellungen davon, wie man selbst sein sollte. Der normale Mensch – den es ja nicht gibt – sollte z. B. unabhängig und selbstsicher sein. Thomas Moore erzählt von einer Patientin, die in seine Praxis kam, weil sie sich nicht unabhängig genug fand. Er fragte sie, was das Problem wäre, abhängig zu sein. Psychotherapeuten klagen manchmal darüber, dass Menschen mit Luxusproblemen zu ihnen kommen und andere, die wirklich heftige seelische Krankheiten haben, umso länger auf einen Therapieplatz warten müssen. Das geht so ungefähr in die Richtung: Ich bin soundso, aber das ist verkehrt, ich will anders werden: selbstsicherer, souveräner, nicht mehr so impulsiv usw. Menschen mit diesen Anliegen übertragen dem Therapeuten die Aufgabe, etwas zu eliminieren, so wie der Zahnarzt einen kaputten Zahn zieht.

Thomas Moore sagte der Patientin, die sich zu abhängig empfand: „Wollen Sie nicht Leuten zugetan sein, von ihnen lernen, ihnen nahe sein… Teil einer Gemeinschaft sein, eine intime Beziehung eingehen?“ Ja, das wollte sie, sie wusste nicht, dass dies Abhängigkeit bedeutet. Und Thomas Moore wies sie darauf hin, dass diese Abhängigkeit natürlich auch ihre Schattenseiten habe, nämlich: Bedürftigkeit, Unterlegenheit, Kontrollverlust. Und das ist der springende Punkt: Man bekommt das Positive nicht ohne das Negative. Ein Perfektionist oder eine Perfektionistin glaubt, dass es möglich wäre, ausschließlich das Positive bekommen oder erreichen zu können.

Dadurch, dass wir Unnormales an uns haben, unterscheiden wir uns von anderen, wir sind nicht farblos, wir haben Persönlichkeit. Wie viele geniale und hochkreative Menschen waren völlig unangepasst, waren aufgrund einer schweren Kindheit seelisch gestört? Sie haben gerade deshalb Großartiges in die Welt gebracht.

Ich halte eine solche Erkenntnis für lebenswichtig. Denn sie verhindert, dass wir zu viel von uns selbst verlangen, und in der Folge auch zu viel von unserer Herkunftsfamilie, vom Partner oder der Partnerin, weil wir sie normal haben wollen. In dem Wissen, dass niemand normal ist, ist es leichter, sich und andere so anzunehmen, wie wir oder sie sind, wir müssen uns nicht umfunktionieren und noch weniger irgendjemand anderen. Wir geben den Kampfmodus auf. So ersparen wir uns viel Leid. Wir kommen weg vom Ego, wir nähern uns dem, was wir in der Tiefe sind.

Thomas Moore schreibt: „Wir verlangen geradezu exzessiv nach Unterhaltung, Macht… und materiellen Dingen, und wir glauben, dass wir das alles finden, wenn wir die richtige Beziehung oder den richtigen Job, die richtige Kirche oder Therapie entdecken. Doch ohne Seele wird, was immer wir finden, unbefriedigend sein. Denn wonach wir uns wirklich sehnen, das ist die Seele in allen diesen Bereichen. Solange dieses Beseeltsein fehlt, versuchen wir, diese verlockende Befriedigung in großen Mengen zu erlangen, und glauben dabei offensichtlich, dass die Menge den Mangel an Qualität ersetzt.“

Auch wenn es gilt, uns und unser Schicksal anzunehmen, bedeutet das nicht, dass wir alles schleifenlassen, sondern dass wir uns trotzdem ein wenig bemühen, der Seele nahe zu kommen, indem wir achtsam leben. Auf diese Weise sorgen wir für die Seele, die jenseits aller Verrücktheit ist. Immer dann, wenn wir das Gefühl haben: „Jetzt bin ich in meiner Mitte, jetzt fühle ich mich in Harmonie, jetzt bin ich selbst“, dann sind wir der Seele nahegekommen. Es kann sein, dass dies geschieht, wenn wir achtsam das Geschirr waschen, achtsam das Auto reparieren, achtsam spazieren gehen – mit einem Wort, wenn wir ganz da sind, ganz in der Gegenwart sind und mit allen Sinnen wahrnehmen. Oder wenn wir die Sinne in der Meditation nach außen verschließen und den Atem wahrnehmen. Und wenn wir bei alledem nicht zu viel von uns verlangen. Wir kommen der Seele nahe, wenn wir uns und anderen Gutes getan haben, wenn wir kreativ sind, wenn wir jemanden oder etwas lieben. Wir finden etwas von der Seele widergespiegelt in der Welt, wenn wir achtsam schauen, hören, tasten, riechen und schmecken. Wir finden etwas von der Seele in unserem Tun, wenn wir achtsam handeln.

Ist es nicht seltsam, dass alle Menschen auf dieser Erde irgendeine Unnormalität, eine Verrücktheit in sich tragen (es ist etwas ver-rückt, verrutscht, es ist nicht mehr in der Mitte)? Das muss einen Sinn haben. Man sagt ja, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und das stimmt. Jeder hat irgendein Leiden oder sogar viele, sei es im Bereich der familiären oder Partnerbeziehung, sei es im Beruflichen und Finanziellen, sei es in gesundheitlicher Hinsicht. Irgendwo gibt es ein Päckchen oder sogar ein schweres Paket zu tragen, vielleicht sogar in allen diesen Bereichen. Ich glaube fest daran, dass wir mit einer ganz bestimmten Aufgabe in dieses Leben gekommen sind und in diesem Leben gehalten werden. Irgendetwas müssen wir erfüllen, irgendetwas müssen wir lernen und bewältigen.

Die inneren und äußeren Kämpfe, die wir auszustehen haben, scheinen uns das Leben unnötig schwer zu machen, und doch haben sie einen Sinn. Sie weisen auf das hin, was wir in diesem Leben vor allem lernen sollen. Platon lehrte vor etwa 2500 Jahren, dass dieses Leben eine Schule wäre, und dass die Seele sich durch viele Inkarnationen weiterentwickle. Das Leben als Schule klingt nach einer ernsten und anstrengenden Angelegenheit, aber auch in einer Schule gibt es hin und wieder Pausen und Erholung, wo wir einfach nur genießen dürfen. So auch im Leben. Durch die inneren und äußeren Schwierigkeiten, durch die Herausforderungen, die auf uns zukommen, entwickeln wir uns.

Was ist deine Aufgabe im Leben? Warum bist du auf der Welt? Als wir auf die Welt kamen, wurde uns nicht gesagt, was diese Aufgabe sein könnte. Es ist ein Geheimnis. Wir müssen irgendwann selbst daraufkommen.

Eine jüdische Legende erzählt von einem Seelenbegleiter, dem Engel Laila. Dieser Engel bringt den Samentropfen, aus dem einmal ein Mensch werden soll, zu Gott und hält ihn Gott mit der Frage hin: „Was wird das Schicksal dieses Menschen sein?“ Gott bestimmt daraufhin das Schicksal dieses Menschen, ob er stark oder schwach sein wird, arm oder reich, aber nicht, ob er eher gut oder eher böse sein wird, denn der Mensch ist frei, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Danach pflanzt der Engel Laila den Samentropfen in einen Mutterleib ein, zündet ein Licht auf dem Kopf des Ungeborenen an, und teilt ihm alles Wissen und alle Weisheit der Welt mit. Er verrät ihm auch den Sinn des Lebens aller Menschen und den individuellen Sinn des Lebens dieses Kindes. Bevor es geboren wird, löscht der Engel das Licht aus. Wenn das Kind das Licht der Welt erblickt hat, legt der Engel den Zeigefinger auf den Mund des Neugeborenen, damit dieser niemals die Geheimnisse verraten kann, die es im Mutterleib gelehrt bekommen hat. Das Kind wird auch vergessen, was der Sinn des Lebens und was seine ganz eigene Bestimmung ist. Die Legende sagt, dass wir eine Kerbe zwischen Nase und Oberlippe haben, weil der Engel Laila uns mit seinem Zeigefinger dort berührt hat. Der Legende nach begleitet Laila den Menschen weiter bis zum Tod und hilft ihm, über die Schwelle zu treten.

Auch wenn diese Geschichte eine Legende ist, die in mythischen Bildern spricht, sagt sie uns, dass in unserer Seele alles Wissen da ist, auch das Wissen darum, was der Sinn des Lebens ist.