Magische Augenblicke

„Magie ist schüchtern. Manchmal, wenn es still ist, wagt sie es, sich zu zeigen.“ (Verfasser unbekannt)

Wir alle erleben manchmal magische Momente, d.h. Augenblicke, in denen wir irgendwie verzaubert sind, in denen die Welt um uns herum plötzlich so anders erscheint. Das rationale Denken steht dann nicht im Vordergrund, sondern das Gefühl, die Stimmung färbt alles. Sollte sich das rationale Denken jedoch gleich wieder in den Vordergrund schieben, kann es leicht passieren, dass das Gefühl der Verzauberung schnell wieder verschwindet.

Es kann sein, dass wir beim Anblick einer Landschaft, eines Kunstwerks, eines Menschen, besonders bei Verliebtheit, in diese Verzauberung hineinkommen, aber wir können solche Momente nicht einplanen. Sie kommen immer überraschend. Manchmal können positive Überraschungen das Erleben solcher Momente auslösen. Z. B. sitzt man in einem Straßencafé, die Sonne scheint, und plötzlich hebt ganz überraschend die Musik eines Straßenmusikers an, und die Welt ist wie verwandelt und verzaubert.

Wie gesagt, sind dies nicht-rationale Erfahrungen. In unserer kopfgesteuerten und kopflastigen Zeit gibt es eine Sehnsucht nach dem Nicht-Rationalen, und tatsächlich brauchen wir solche Momente, die man nicht einplanen kann. Würden wir uns an einem anderen Tag in dasselbe Straßencafé bei Sonnenschein setzen, würde derselbe Straßenmusiker wieder spielen, die Verzauberung wäre keineswegs garantiert; vor allem, wenn wir uns dort hinsetzen würden, um das gleiche noch einmal zu erleben, dann würde sich mit Sicherheit ein solches Erleben nicht einstellen, allein deshalb, weil wir das Erleben erwartet haben.

Wir können diese Augenblicke also nicht selbst zustande bringen, aber man kann hin und wieder die Grundlage dafür schaffen, z. B., indem man eine Reise macht, eine kulturelle Veranstaltung besucht, in der Natur spazieren geht. Ein gemeinsames Essen oder eine Feier können ebenfalls etwas Magisch-Sinnstiftendes bewirken. Und doch sind die magischen Momente auch hier nicht garantiert.

Das, was wir gemeinsam mit anderen tun, ob es Musizieren ist, gemeinsames Meditieren, Wandern, Spielen, all das hebt uns über unser Ich hinaus, es hebt uns über unsere Vereinzelung hinaus, ein gemeinsames Essen hat etwas Magisch-Gemeinschaftsstiftendes.

Auch Rituale können magisch wirken. Eine überbetont rationale Welt lehnt jedoch das Rituelle und Kultische ab. Das Sich-Verneigen z. B. ist in meinen Meditationskursen ein immer wiederkehrendes Ritual. Ein oft wiederholtes Ritual kann in einem von hundert Malen plötzlich tiefer erlebt werden. Die Meditation bedient sich auch der ständigen Wiederholung: immer wieder der Atem oder immer wieder das Meditationswort. Oft fühlt sich eine Meditationssitzung nicht erhebend an, und dann gibt es doch Momente, wo man etwas anderes spürt. Es kommt überraschend. Auch hier gilt: Wenn wir in der Meditationssitzung etwas erwarten, kommt es mit Sicherheit nicht. Auch unser Alltag ist durchwoben von Ritualen: Begrüßung, Verabschiedung, Dank, Glückwünsche, Geschenke zum Geburtstag usw. Auch die Alltagsrituale fördern ein Zugehörigkeitsgefühl. Das Zugehörigkeitsgefühl kann sich magisch anfühlen, wir fühlen uns geborgen und aufgehoben.

Man kann also äußere Grundlagen schaffen, dass magische Momente leichter entstehen können, aber, wie ich eingangs zitierte, ist Magie schüchtern, sie zeigt sich nicht so ohne weiteres. Die innere Grundlage dafür ist vor allem eine gewisse Leere, das bedeutet, dass wir nicht randvoll gefüllt sind mit Aktivitäten und Gedanken. Deshalb heißt es im zweiten Satz des Zitats: „Manchmal, wenn es still ist, wagt sie es, sich zu zeigen.“ Wenn es still ist im Innern, wenn das Herz nicht voller Sorgen und der Kopf nicht voller Pläne ist. Wenn wir Zeit haben und vielleicht ein paar Minuten nur dasitzen. Wenn wir einmal etwas anderes tun als das, was wir immer tun.

Der magischste Moment, der jedem Menschen vertraut ist, ist die Verliebtheit. Da ist die ganze Welt verzaubert, und das vielleicht wochenlang, monatelang. Was ist da passiert? Wir sind völlig von uns weggegangen und mit den Gedanken und dem Herzen nur noch beim anderen. Freilich hört das auch irgendwann auf, doch die Verliebtheit kann immer wieder aufflackern.

Verliebtheit ist sicher das Magischste, das heutige Menschen erleben. In anderen Zeiten und anderen Kulturen gab und gibt es jedoch spirituelle, mystische Erfahrungen, die der Verliebtheit ähneln, auch was die Dauer und Intensität betrifft. Die höchsten mystischen Erfahrungen gehen in ihrer Intensität sogar weit über das Erlebnis von Verliebtheit hinaus. In unserer Zeit und unserer Kultur kennen fast nur noch Menschen, die in kontemplativen Klöstern ein intensives spirituelles Leben führen, magische Momente dieser Art.  Doch auch Menschen, die nicht im Kloster leben, vielleicht auch nicht meditieren oder beten, möglicherweise ganz „weltlich“ sind, können von feineren mystischen Erfahrungen überrascht werden. 

Weitere zarte magische Momente kann man z. B. in freundschaftlichen Beziehungen erleben und selbst bei sehr kurzen zwischenmenschlichen Begegnungen mit jemandem, den man vorher gar nicht kannte. Wenn es denn wirklich eine Begegnung war, kann hinterher noch etwas nachklingen, wir fühlen uns irgendwie anders, in Harmonie mit uns selbst und dem Rest der Welt. Bei einem vereinsamten Menschen können sogar schon das unerwartete Lächeln einer Kassiererin oder ein paar freundliche Worte, die der Nachbar über den Zaun ruft, wie Magie wirken. Magische Momente kann es in der Arbeit geben, beim Ausüben eines Hobbys, und zwar immer dann, wenn man aufgeht im Handlungsfluss, wenn man Zeit und Raum vergisst und erst, wenn man wieder auftaucht aus der Selbstvergessenheit, merkt man, wie schön dieser Zustand doch war.

In ihrem Buch „Aus Liebe zum Leben“ erzählt die amerikanische Ärztin Rachel Naomi Remen von einer Nachbarin, die ein sehr bodenständiger und praktischer Mensch war. Diese Nachbarin war gerade beim Hausputz gewesen, „als sie plötzlich ihr ganzes Leben schnell vor sich ablaufen sah und einer Tatsache gewahr wurde, die sie zuvor nie wahrgenommen hatte: dass nämlich eine Kohärenz (Zusammenhang) darin vorhanden war, eine Ausrichtung, die durch ihr Leben verlief wie ein roter Faden. Die Entscheidungen und Ereignisse der Vergangenheit, die zu ihrer Zeit ziemlich zufällig gewesen zu sein schienen, fügten sich nahtlos auf eine völlig neue und sinnvolle Weise zusammen. Ihr war, als sei sie, ohne es zu wissen, schon seit vielen Jahren einem unsichtbaren Faden gefolgt… Während sie da in ihrer Küche stand, mit dem Mopp in der Hand… überkam sie plötzlich die tiefe Gewissheit, dass das, was auf sie persönlich zutraf, auch auf das Leben im Allgemeinen zutrifft. Alles entfaltete sich nach einem Plan… und sie begann vor Freude zu weinen… Es ist möglich, dass wir in unserer Küche stehen und den Atem Gottes spüren.“

Ja, der Ort für magische Momente kann auch die Küche sein, das Büro, sogar der Hauptbahnhof, wie Josef Beuys sagte: „Das Mysterium findet auf dem Hauptbahnhof statt.“ Mit anderen Worten: magische Augenblicke kannst Du überall erleben.

Magische Momente als Wendepunkte

 „Wenn Menschen so weit sind, verändern sie sich. Vorher tun sie das nicht und manchmal sterben sie sogar, bevor sie so weit sind. Man kann sie nicht dazu bringen sich zu verändern, wenn sie es nicht wollen, so wie man sie auch nicht daran hindern kann, wenn sie es wollen.“ (Andy Warhol)

Die Journalistin und Schriftstellerin Dorothee Röhrig hat ein Buch mit dem Titel „Die fünf magischen Momente des Lebens“ geschrieben. Darin beschreibt sie magische Momente als Erlebnisse, die einen Wendepunkt einleiten: „Ein magischer Moment ist ein Wendepunkt, ein Richtungswechsel. Magisch deshalb, weil dein Leben in wenigen Sekunden eine neue Richtung genommen hat. Unerwartet, vermeintlich ohne Vorwarnung.“ Ausgelöst werden diese Wendepunkte also durch Momente des intensiven Erlebens, hinzu kommt eine Klarheit, eine Erkenntnis, die zum Handeln bewegt.

Es kann ein Satz sein, den man hört oder liest, der plötzlich die Weichen stellt. Das sieht so unvorbereitet aus, doch der Schein trügt: da gärte lange etwas im Innern, und es brauchte die ganze Zeit bis zu diesem Satz, diesem Erlebnis, damit wir endlich konsequent handeln. Sie erzählt von einer Frau, die frisch geschnittenes Gras riecht, als sei es das erste Mal im Leben, und sie entscheidet sich, aufs Land zu ziehen. Oder jemand, dem bisher Geld und Besitz sehr wichtig war, hat einen Unfall, und plötzlich wird ihm all das nebensächlich. Oder man geht jahrelang einer ungeliebten Arbeit nach, und plötzlich ist da ein kleines Ereignis, nicht viel frustrierender als der ganze Frust all die Jahre zuvor, und man entscheidet sich: Ich gehe, ich mache etwas ganz anderes.

Ja, der Auslöser ist manchmal ganz klein. Man könnte fast sagen, je kleiner er ist, desto mehr zeigt es an, dass etwas überfällig war. Ja, und der Auslöser ist nicht immer positiv. Der Auslöser kann wie erwähnt ein Unfall sein, eine Krankheit und Lebenskrise oder auch nur ein einziger abwertender Satz eines nahestehenden Menschen sein, der bewirkt, dass man sich fragt: „Warum habe ich eigentlich so lange an dieser Beziehung festgehalten?“ und dass man möglicherweise dann die Kraft hat, sie zu beenden.

Ich sagte vorhin, man könnte fast sagen, je kleiner der Auslöser war, desto mehr zeigt er an, dass etwas überfällig war. Ich betone das Wörtchen „fast“, denn man muss dabei bedenken, dass es Persönlichkeiten gibt, die sehr oft ein einziges kleines negatives Erlebnis, einen einzigen negativen Satz eines anderen zum Anlass nehmen, Kontakte abrupt und für immer abzubrechen oder irgendeinen Ort für alle Zeiten zu meiden. Wenn das ein sich immer wiederholendes Muster ist, und wenn es sich hier nicht um den berühmten Tropfen handelt, der das Fass zum Überlaufen bringt, dann kann man nicht von einem magischen Moment als Wendepunkt sprechen, sondern es liegt eher etwas Pathologisches vor.

Der Psychologe Jörg Willi sagt: „Meine Beobachtung ist die, dass wir viele Lebenswenden schon lange in uns vorbereitet haben, dass ihre Verwirklichung unausweichlich geworden ist. Oftmals werden wir von längst anstehenden Entwicklungen eingeholt, denen wir immer auszuweichen versuchten.“

In magischen Momenten springt sozusagen endlich der Deckel auf, den man auf das eigene Erleben gedrückt hat. Dieser Deckel ist: zu viel Arbeit, zu viel im Kopf sein, zu viel wichtig nehmen, was man tun soll und muss oder was man nicht tun soll, zu viel Angst vor Veränderung. Dieser Deckel wird nicht nur über etwas Negatives gelegt, das man vermeiden will, sondern auch über positives Erleben. Z. B. man behindert sich darin, das Leben zu genießen: Man ist in Gedanken immer irgendwo anders, man ist immer voller Sorgen, Pläne oder belastenden Erinnerungen.

Negative Auslöser, positive Auslöser: Wenn sie eine Lebenswende einleiten, können wir sagen: wie auch immer sie waren: sie waren konstruktive Auslöser. Durch diese Wendepunkte reifen wir. Manchmal geht die Reifung jedoch so unscheinbar vor sich, wie ein ruhig dahinfließender Fluss, dass wir plötzlich verwundert feststellen: oh, das hat sich ja in mir geändert. D.h. die Erkenntnis über eine Veränderung, einen Reifungsschritt ist plötzlich und überraschend, aber die Veränderung an sich geschah kontinuierlich ohne einen erkennbaren Wendepunkt. Und dann weiß man auch gar nicht, was einen verändert hat, und es ist auch nicht wichtig zu wissen, was genau es war.

Ein Wendepunkt, ausgelöst durch ein Erlebnis, kann auch überwiegend geistiger Art sein, ohne dass er im Handeln sonderlich sichtbar wird. Nehmen wir an, jemand erkennt durch einen Schicksalsschlag, was wirklich wichtig ist im Leben, und dass viel Besitz und viel Geld nichts zu seinem Glück beigetragen haben. Wenn dieser Mensch nun nicht beginnt, allen materiellen Ballast aus dem Haus zu werfen, sondern einfach innerlich losgelöst von all diesem Besitz weiterhin mit den Besitztümern lebt wie bisher, dann merkt ein Außenstehender gar nicht diese innere Wende.

Menschen mit tiefen spirituellen Erfahrungen, die spirituelle Krisen und Wendepunkte erlebten, merkt man manchmal etwas in ihrer Ausstrahlung an, d.h. sensible Menschen merken es, andere merken vielleicht überhaupt nichts. Wie oft geschieht es, dass man ein festgefügtes Bild von jemandem hat, so dass man gar nicht die Veränderung der Persönlichkeit des anderen bemerkt. Besonders innerhalb der Familie geschieht es, wohl auch deshalb, weil man sich ja sehr oft oder sogar täglich sieht.

Wendepunkte kommen wie gesagt nicht immer plötzlich und überraschend. Als ich Studentin war, hatte ich eine Vermieterin, die hin und wieder äußerte: „Ich werde mich heute hinsetzen und mein Leben neu überdenken.“ Das fand ich drollig. Heute finde ich es empfehlenswert, sich immer wieder hinzusetzen und das Leben neu zu überdenken. Die Wendepunkte, die einen ansonsten überraschen würden, nimmt man damit sozusagen vorweg. Gründe für dieses Überdenken des Lebens können sein, dass man dauerunzufrieden ist mit dem eigenen Leben, dass der Alltag nur noch stressig und nervenaufreibend ist oder dass man nicht weiß, was man eigentlich will. Es kann sein, dass wir bei diesem Überdenken, bei diesem gezielten Suchen nach einem Wendepunkt keine Antwort finden, jedoch damit den Boden dafür bereiten, dass er später einmal überraschend auftaucht. Alles hat seine Zeit.

Es ist, wie der Künstler Andy Warhol sagte: „Wenn Menschen so weit sind, verändern sie sich. Vorher tun sie das nicht und manchmal sterben sie sogar, bevor sie so weit sind. Man kann sie nicht dazu bringen sich zu verändern, wenn sie es nicht wollen, so wie man sie auch nicht daran hindern kann, wenn sie es wollen.“ Denn alles hat seine Zeit.

In Berührung mit der Seele kommen

„Wir verlangen geradezu exzessiv nach Unterhaltung, Macht… und materiellen Dingen, und wir glauben, dass wir das alles finden, wenn wir die richtige Beziehung oder den richtigen Job, die richtige Kirche oder Therapie entdecken. Doch ohne Seele wird, was immer wir finden, unbefriedigend sein. Denn wonach wir uns wirklich sehnen, das ist die Seele in allen diesen Bereichen. Solange dieses Beseeltsein fehlt, versuchen wir, diese verlockende Befriedigung in großen Mengen zu erlangen, und glauben dabei offensichtlich, dass die Menge den Mangel an Qualität ersetzt.“ (Thomas Moore)

Heute hört man kaum noch das Wort „Seele“. Man verwendet es allenfalls, wenn von seelischen Störungen gesprochen wird. Meist ersetzt man dann die Bezeichnungen „Seele“ oder „seelisch“ mit „Psyche“ oder „psychisch“, das bedeutet zwar auch Seele, aber es klingt weltlicher, wissenschaftlicher. Diese Gewohnheit rührt wohl daher, dass die Seele vielfach als etwas Ewiges verleugnet wird, dass man nicht mehr an ihre Existenz glaubt bzw. dass man davon ausgeht, die Seele wäre nur ein Produkt des Gehirns, wie uns der weit verbreitete Materialismus einreden will, sie wäre also ein Produkt der Materie und nicht umgekehrt. Spirituelle Traditionen sagen uns jedoch, dass der Geist zuerst da war und das Materielle aus ihm heraus entstanden ist.

Die Seele hat keinen Ort, sie ist geheimnisvoll, weil sie sich verborgen hält. Sie macht sich bemerkbar, wenn sie schmerzt, und sie schmerzt, weil sie vernachlässigt oder schlecht behandelt wurde oder weil uns etwas Schweres aufgebürdet wurde. Außerdem macht sie sich durch Träume und Intuitionen bemerkbar, aber viele Menschen nehmen diese Phänomene nicht ernst.

Der amerikanische Psychotherapeut Thomas Moore spricht ganz bewusst immer wieder von der Seele. In seinem Buch „Seel-Sorge“ (Originaltitel „Soul Care“) geht es um die Pflege der Seele, bei der Spiritualität unbedingt miteinbezogen werden muss. Obwohl Thomas Moore selbst Psychotherapeut ist, kritisiert er die meisten Formen von Psychotherapie, die sich um Anpassung an bestimmte Maßstäbe, an gesellschaftliche Normen und um das Ego kümmern, aber die Seele vernachlässigen, indem sie Spiritualität ausklammern. Nach herkömmlichen Therapien soll der Mensch normal werden, es geht um das Reparieren und Ändern in Richtung Symptomfreiheit. Da kann es geschehen, dass man auf der Stelle tritt, oder dass nach einer Linderung der Symptome nach Jahren neue, andere Symptome auftauchen. Denn es ist eine Illusion, dass der Mensch symptomfrei, frei von Leid und normal sein könnte. Was heißt eigentlich „normal sein“? Wer definiert es? Kein Mensch ist normal.

Wie könnte es auch anders sein? Wir stammen alle aus Familien, die nicht normal waren. Heutzutage spricht man von dysfunktionalen Familien, so als ob sie die Ausnahme wären. Doch sie sind die Regel, sagt Thomas Moore, und das entspricht auch meiner Erfahrung, obwohl es hier natürlich graduelle Unterschiede gibt. Was ist eine dysfunktionale Familie? Mindestens ein Mitglied zeigt ein gestörtes, schädigendes Verhalten.  Vielleicht spielt Sucht eine Rolle oder Gewalt, auch psychische Gewalt. Die Beziehungen untereinander sind gestört. Vielleicht sieht die Familie nach außen gesund aus, erscheint sogar wie aus dem Bilderbuch herausgenommen, aber dahinter verbergen sich vielleicht gravierende Probleme. Und wie könnte es anders sein, da die Gesellschaft krank ist, da die Welt krank ist? Die Familie ist eingebettet in die Gesellschaft, und wir sind eingebettet in die Familie. Die Familie ist das Spiegelbild der Welt, und in uns selbst spiegelt sich unsere Familie und somit die Welt. Nicht nur Familiensysteme sind allzu oft dysfunktional, auch berufliche Teams sind es. Wenn man ein Kollegium hat, das miteinander einigermaßen harmoniert, dann ist das ein großer Glücksfall. Die Krankheit der Welt spiegelt sich überall wider und bis in die politische Ebene hinein, da sogar am stärksten. In dieser Welt leben wir, und sie macht es uns schwer, mit unserer Seele in Berührung zu kommen.

In früheren Jahrzehnten wurde die Familie oft als Hort der Geborgenheit romantisiert, und heute spricht man häufig abfällig über sie. Man hält sie für schwierig, und das ist sie auch. Wenn man nicht weiß, dass Familiensysteme genauso wie andere soziale Gruppen mehr oder wenig gestört sind, führt das entweder zur Idealisierung der eigenen Familie, nämlich, indem wenn man diese Schwierigkeiten verleugnet, oder sie führt zur Ablehnung, wenn man glaubt, man wäre ausnahmsweise in eine dysfunktionale Familie hineingeboren worden. Eine realistische Sicht der eigenen Familie kann dazu führen, dass man im Frieden mit dem eigenen Schicksal ist.

Ich sagte, dass die Familie ein Spiegelbild der Welt ist. Die Welt ist gut und böse. Noch nie gab es eine heile Welt, und sie wird trotz aller Bestrebungen nie heil sein können. Die Gesellschaft war immer krank. Im Moment scheint sie mir kranker denn je zu sein, und das Krankhafte wird sich sicherlich noch ausweiten. Doch gehen wir zurück zum einzelnen Menschen.

In den Köpfen vieler Menschen gibt es Vorstellungen davon, wie man selbst sein sollte. Der normale Mensch – den es ja nicht gibt – sollte z. B. unabhängig und selbstsicher sein. Thomas Moore erzählt von einer Patientin, die in seine Praxis kam, weil sie sich nicht unabhängig genug fand. Er fragte sie, was das Problem wäre, abhängig zu sein. Psychotherapeuten klagen manchmal darüber, dass Menschen mit Luxusproblemen zu ihnen kommen und andere, die wirklich heftige seelische Krankheiten haben, umso länger auf einen Therapieplatz warten müssen. Das geht so ungefähr in die Richtung: Ich bin soundso, aber das ist verkehrt, ich will anders werden: selbstsicherer, souveräner, nicht mehr so impulsiv usw. Menschen mit diesen Anliegen übertragen dem Therapeuten die Aufgabe, etwas zu eliminieren, so wie der Zahnarzt einen kaputten Zahn zieht.

Thomas Moore sagte der Patientin, die sich zu abhängig empfand: „Wollen Sie nicht Leuten zugetan sein, von ihnen lernen, ihnen nahe sein… Teil einer Gemeinschaft sein, eine intime Beziehung eingehen?“ Ja, das wollte sie, sie wusste nicht, dass dies Abhängigkeit bedeutet. Und Thomas Moore wies sie darauf hin, dass diese Abhängigkeit natürlich auch ihre Schattenseiten habe, nämlich: Bedürftigkeit, Unterlegenheit, Kontrollverlust. Und das ist der springende Punkt: Man bekommt das Positive nicht ohne das Negative. Ein Perfektionist oder eine Perfektionistin glaubt, dass es möglich wäre, ausschließlich das Positive bekommen oder erreichen zu können.

Dadurch, dass wir Unnormales an uns haben, unterscheiden wir uns von anderen, wir sind nicht farblos, wir haben Persönlichkeit. Wie viele geniale und hochkreative Menschen waren völlig unangepasst, waren aufgrund einer schweren Kindheit seelisch gestört? Sie haben gerade deshalb Großartiges in die Welt gebracht.

Ich halte eine solche Erkenntnis für lebenswichtig. Denn sie verhindert, dass wir zu viel von uns selbst verlangen, und in der Folge auch zu viel von unserer Herkunftsfamilie, vom Partner oder der Partnerin, weil wir sie normal haben wollen. In dem Wissen, dass niemand normal ist, ist es leichter, sich und andere so anzunehmen, wie wir oder sie sind, wir müssen uns nicht umfunktionieren und noch weniger irgendjemand anderen. Wir geben den Kampfmodus auf. So ersparen wir uns viel Leid. Wir kommen weg vom Ego, wir nähern uns dem, was wir in der Tiefe sind.

Thomas Moore schreibt: „Wir verlangen geradezu exzessiv nach Unterhaltung, Macht… und materiellen Dingen, und wir glauben, dass wir das alles finden, wenn wir die richtige Beziehung oder den richtigen Job, die richtige Kirche oder Therapie entdecken. Doch ohne Seele wird, was immer wir finden, unbefriedigend sein. Denn wonach wir uns wirklich sehnen, das ist die Seele in allen diesen Bereichen. Solange dieses Beseeltsein fehlt, versuchen wir, diese verlockende Befriedigung in großen Mengen zu erlangen, und glauben dabei offensichtlich, dass die Menge den Mangel an Qualität ersetzt.“

Auch wenn es gilt, uns und unser Schicksal anzunehmen, bedeutet das nicht, dass wir alles schleifenlassen, sondern dass wir uns trotzdem ein wenig bemühen, der Seele nahe zu kommen, indem wir achtsam leben. Auf diese Weise sorgen wir für die Seele, die jenseits aller Verrücktheit ist. Immer dann, wenn wir das Gefühl haben: „Jetzt bin ich in meiner Mitte, jetzt fühle ich mich in Harmonie, jetzt bin ich selbst“, dann sind wir der Seele nahegekommen. Es kann sein, dass dies geschieht, wenn wir achtsam das Geschirr waschen, achtsam das Auto reparieren, achtsam spazieren gehen – mit einem Wort, wenn wir ganz da sind, ganz in der Gegenwart sind und mit allen Sinnen wahrnehmen. Oder wenn wir die Sinne in der Meditation nach außen verschließen und den Atem wahrnehmen. Und wenn wir bei alledem nicht zu viel von uns verlangen. Wir kommen der Seele nahe, wenn wir uns und anderen Gutes getan haben, wenn wir kreativ sind, wenn wir jemanden oder etwas lieben. Wir finden etwas von der Seele widergespiegelt in der Welt, wenn wir achtsam schauen, hören, tasten, riechen und schmecken. Wir finden etwas von der Seele in unserem Tun, wenn wir achtsam handeln.

Ist es nicht seltsam, dass alle Menschen auf dieser Erde irgendeine Unnormalität, eine Verrücktheit in sich tragen (es ist etwas ver-rückt, verrutscht, es ist nicht mehr in der Mitte)? Das muss einen Sinn haben. Man sagt ja, jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und das stimmt. Jeder hat irgendein Leiden oder sogar viele, sei es im Bereich der familiären oder Partnerbeziehung, sei es im Beruflichen und Finanziellen, sei es in gesundheitlicher Hinsicht. Irgendwo gibt es ein Päckchen oder sogar ein schweres Paket zu tragen, vielleicht sogar in allen diesen Bereichen. Ich glaube fest daran, dass wir mit einer ganz bestimmten Aufgabe in dieses Leben gekommen sind und in diesem Leben gehalten werden. Irgendetwas müssen wir erfüllen, irgendetwas müssen wir lernen und bewältigen.

Die inneren und äußeren Kämpfe, die wir auszustehen haben, scheinen uns das Leben unnötig schwer zu machen, und doch haben sie einen Sinn. Sie weisen auf das hin, was wir in diesem Leben vor allem lernen sollen. Platon lehrte vor etwa 2500 Jahren, dass dieses Leben eine Schule wäre, und dass die Seele sich durch viele Inkarnationen weiterentwickle. Das Leben als Schule klingt nach einer ernsten und anstrengenden Angelegenheit, aber auch in einer Schule gibt es hin und wieder Pausen und Erholung, wo wir einfach nur genießen dürfen. So auch im Leben. Durch die inneren und äußeren Schwierigkeiten, durch die Herausforderungen, die auf uns zukommen, entwickeln wir uns.

Was ist deine Aufgabe im Leben? Warum bist du auf der Welt? Als wir auf die Welt kamen, wurde uns nicht gesagt, was diese Aufgabe sein könnte. Es ist ein Geheimnis. Wir müssen irgendwann selbst daraufkommen.

Eine jüdische Legende erzählt von einem Seelenbegleiter, dem Engel Laila. Dieser Engel bringt den Samentropfen, aus dem einmal ein Mensch werden soll, zu Gott und hält ihn Gott mit der Frage hin: „Was wird das Schicksal dieses Menschen sein?“ Gott bestimmt daraufhin das Schicksal dieses Menschen, ob er stark oder schwach sein wird, arm oder reich, aber nicht, ob er eher gut oder eher böse sein wird, denn der Mensch ist frei, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Danach pflanzt der Engel Laila den Samentropfen in einen Mutterleib ein, zündet ein Licht auf dem Kopf des Ungeborenen an, und teilt ihm alles Wissen und alle Weisheit der Welt mit. Er verrät ihm auch den Sinn des Lebens aller Menschen und den individuellen Sinn des Lebens dieses Kindes. Bevor es geboren wird, löscht der Engel das Licht aus. Wenn das Kind das Licht der Welt erblickt hat, legt der Engel den Zeigefinger auf den Mund des Neugeborenen, damit dieser niemals die Geheimnisse verraten kann, die es im Mutterleib gelehrt bekommen hat. Das Kind wird auch vergessen, was der Sinn des Lebens und was seine ganz eigene Bestimmung ist. Die Legende sagt, dass wir eine Kerbe zwischen Nase und Oberlippe haben, weil der Engel Laila uns mit seinem Zeigefinger dort berührt hat. Der Legende nach begleitet Laila den Menschen weiter bis zum Tod und hilft ihm, über die Schwelle zu treten.

Auch wenn diese Geschichte eine Legende ist, die in mythischen Bildern spricht, sagt sie uns, dass in unserer Seele alles Wissen da ist, auch das Wissen darum, was der Sinn des Lebens ist.