„Wenn Menschen so weit sind, verändern sie sich. Vorher tun sie das nicht und manchmal sterben sie sogar, bevor sie so weit sind. Man kann sie nicht dazu bringen sich zu verändern, wenn sie es nicht wollen, so wie man sie auch nicht daran hindern kann, wenn sie es wollen.“ (Andy Warhol)
Die Journalistin und Schriftstellerin Dorothee Röhrig hat ein Buch mit dem Titel „Die fünf magischen Momente des Lebens“ geschrieben. Darin beschreibt sie magische Momente als Erlebnisse, die einen Wendepunkt einleiten: „Ein magischer Moment ist ein Wendepunkt, ein Richtungswechsel. Magisch deshalb, weil dein Leben in wenigen Sekunden eine neue Richtung genommen hat. Unerwartet, vermeintlich ohne Vorwarnung.“ Ausgelöst werden diese Wendepunkte also durch Momente des intensiven Erlebens, hinzu kommt eine Klarheit, eine Erkenntnis, die zum Handeln bewegt.
Es kann ein Satz sein, den man hört oder liest, der plötzlich die Weichen stellt. Das sieht so unvorbereitet aus, doch der Schein trügt: da gärte lange etwas im Innern, und es brauchte die ganze Zeit bis zu diesem Satz, diesem Erlebnis, damit wir endlich konsequent handeln. Sie erzählt von einer Frau, die frisch geschnittenes Gras riecht, als sei es das erste Mal im Leben, und sie entscheidet sich, aufs Land zu ziehen. Oder jemand, dem bisher Geld und Besitz sehr wichtig war, hat einen Unfall, und plötzlich wird ihm all das nebensächlich. Oder man geht jahrelang einer ungeliebten Arbeit nach, und plötzlich ist da ein kleines Ereignis, nicht viel frustrierender als der ganze Frust all die Jahre zuvor, und man entscheidet sich: Ich gehe, ich mache etwas ganz anderes.
Ja, der Auslöser ist manchmal ganz klein. Man könnte fast sagen, je kleiner er ist, desto mehr zeigt es an, dass etwas überfällig war. Ja, und der Auslöser ist nicht immer positiv. Der Auslöser kann wie erwähnt ein Unfall sein, eine Krankheit und Lebenskrise oder auch nur ein einziger abwertender Satz eines nahestehenden Menschen sein, der bewirkt, dass man sich fragt: „Warum habe ich eigentlich so lange an dieser Beziehung festgehalten?“ und dass man möglicherweise dann die Kraft hat, sie zu beenden.
Ich sagte vorhin, man könnte fast sagen, je kleiner der Auslöser war, desto mehr zeigt er an, dass etwas überfällig war. Ich betone das Wörtchen „fast“, denn man muss dabei bedenken, dass es Persönlichkeiten gibt, die sehr oft ein einziges kleines negatives Erlebnis, einen einzigen negativen Satz eines anderen zum Anlass nehmen, Kontakte abrupt und für immer abzubrechen oder irgendeinen Ort für alle Zeiten zu meiden. Wenn das ein sich immer wiederholendes Muster ist, und wenn es sich hier nicht um den berühmten Tropfen handelt, der das Fass zum Überlaufen bringt, dann kann man nicht von einem magischen Moment als Wendepunkt sprechen, sondern es liegt eher etwas Pathologisches vor.
Der Psychologe Jörg Willi sagt: „Meine Beobachtung ist die, dass wir viele Lebenswenden schon lange in uns vorbereitet haben, dass ihre Verwirklichung unausweichlich geworden ist. Oftmals werden wir von längst anstehenden Entwicklungen eingeholt, denen wir immer auszuweichen versuchten.“
In magischen Momenten springt sozusagen endlich der Deckel auf, den man auf das eigene Erleben gedrückt hat. Dieser Deckel ist: zu viel Arbeit, zu viel im Kopf sein, zu viel wichtig nehmen, was man tun soll und muss oder was man nicht tun soll, zu viel Angst vor Veränderung. Dieser Deckel wird nicht nur über etwas Negatives gelegt, das man vermeiden will, sondern auch über positives Erleben. Z. B. man behindert sich darin, das Leben zu genießen: Man ist in Gedanken immer irgendwo anders, man ist immer voller Sorgen, Pläne oder belastenden Erinnerungen.
Negative Auslöser, positive Auslöser: Wenn sie eine Lebenswende einleiten, können wir sagen: wie auch immer sie waren: sie waren konstruktive Auslöser. Durch diese Wendepunkte reifen wir. Manchmal geht die Reifung jedoch so unscheinbar vor sich, wie ein ruhig dahinfließender Fluss, dass wir plötzlich verwundert feststellen: oh, das hat sich ja in mir geändert. D.h. die Erkenntnis über eine Veränderung, einen Reifungsschritt ist plötzlich und überraschend, aber die Veränderung an sich geschah kontinuierlich ohne einen erkennbaren Wendepunkt. Und dann weiß man auch gar nicht, was einen verändert hat, und es ist auch nicht wichtig zu wissen, was genau es war.
Ein Wendepunkt, ausgelöst durch ein Erlebnis, kann auch überwiegend geistiger Art sein, ohne dass er im Handeln sonderlich sichtbar wird. Nehmen wir an, jemand erkennt durch einen Schicksalsschlag, was wirklich wichtig ist im Leben, und dass viel Besitz und viel Geld nichts zu seinem Glück beigetragen haben. Wenn dieser Mensch nun nicht beginnt, allen materiellen Ballast aus dem Haus zu werfen, sondern einfach innerlich losgelöst von all diesem Besitz weiterhin mit den Besitztümern lebt wie bisher, dann merkt ein Außenstehender gar nicht diese innere Wende.
Menschen mit tiefen spirituellen Erfahrungen, die spirituelle Krisen und Wendepunkte erlebten, merkt man manchmal etwas in ihrer Ausstrahlung an, d.h. sensible Menschen merken es, andere merken vielleicht überhaupt nichts. Wie oft geschieht es, dass man ein festgefügtes Bild von jemandem hat, so dass man gar nicht die Veränderung der Persönlichkeit des anderen bemerkt. Besonders innerhalb der Familie geschieht es, wohl auch deshalb, weil man sich ja sehr oft oder sogar täglich sieht.
Wendepunkte kommen wie gesagt nicht immer plötzlich und überraschend. Als ich Studentin war, hatte ich eine Vermieterin, die hin und wieder äußerte: „Ich werde mich heute hinsetzen und mein Leben neu überdenken.“ Das fand ich drollig. Heute finde ich es empfehlenswert, sich immer wieder hinzusetzen und das Leben neu zu überdenken. Die Wendepunkte, die einen ansonsten überraschen würden, nimmt man damit sozusagen vorweg. Gründe für dieses Überdenken des Lebens können sein, dass man dauerunzufrieden ist mit dem eigenen Leben, dass der Alltag nur noch stressig und nervenaufreibend ist oder dass man nicht weiß, was man eigentlich will. Es kann sein, dass wir bei diesem Überdenken, bei diesem gezielten Suchen nach einem Wendepunkt keine Antwort finden, jedoch damit den Boden dafür bereiten, dass er später einmal überraschend auftaucht. Alles hat seine Zeit.
Es ist, wie der Künstler Andy Warhol sagte: „Wenn Menschen so weit sind, verändern sie sich. Vorher tun sie das nicht und manchmal sterben sie sogar, bevor sie so weit sind. Man kann sie nicht dazu bringen sich zu verändern, wenn sie es nicht wollen, so wie man sie auch nicht daran hindern kann, wenn sie es wollen.“ Denn alles hat seine Zeit.