„Wenn wir wiederholt einen schweigenden oder mündlichen Ruf, ein Verlangen oder Sehnen nach Wahrheit, Frieden und Führung ins Weltall senden, heißt das, dass gewisse Geisteskräfte in Bewegung gesetzt werden, die im Universum existieren, und die schließlich in genauem Verhältnis zu dem Grade der Stärke der Sehnsucht antworten. Das Universum ist keine blind arbeitende Maschine, sondern ein Gewand, das von einer Hierarchie bewusst erkennender Wesen getragen wird.“ (Paul Brunton)
Paul Brunton, ein englischer Schüler des indischen Mystikers Ramana Maharishi, sagte, um überhaupt irgendetwas auf dem spirituellen Weg zu erreichen, seien drei Voraussetzungen nötig: Glaube, Demut und Sehnsucht. Diese drei sind miteinander verbunden. Im Glauben ist Demut enthalten, denn wir sind nur dann offen für Glauben, wenn wir uns eingestehen, dass wir sehr begrenzte und beschränkte Wesen sind und dass es etwas geben muss, das jenseits unserer Beschränktheit, unserer Erkenntnisfähigkeit liegt. Glaube enthält auch Sehnsucht, nämlich die Sehnsucht nach eben dem, was jenseits unserer Grenzen liegt: die Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, dessen wir nicht habhaft werden können.
Wenn wir das Wort „Glaube“ hören, so verbinden wir das vielleicht spontan mit dem Führwahrhalten von Glaubenssätzen, mit Konfession, mit Irrationalität. Aber Glaube ist Ahnung, Ahnung des Geheimnisses. Glaube ist weder Irrationalität noch bedeutet er ein Fürwahrhalten von Glaubenssätzen. Glaube ist Vertrauen, vermittelt durch Menschen, also durch Beziehung. Glaube ist Beziehung und Vertrauen. Im Deutschen haben wir leider nur ein und dasselbe Wort für „faith“ und „belief“ im Englischen. „Faith“ meint Glauben und Vertrauen, während „belief“ das Fürwahrhalten bzw. die Überzeugungen bedeutet. Sicher spielen Lehrsätze auch im Glauben, der Vertrauen meint, eine gewisse Rolle. Aber jede in Worte gefasste Lehre ist nur die Hülle einer tiefen Wahrheit, und hinter jeder tiefen Wahrheit steckt noch eine tiefere Wahrheit, hinter jedem Geheimnis ein noch tieferes Geheimnis. Dem Verstand ist der Zugang zu den tieferen Geheimnissen verwehrt.
Der heutige Mensch wird sehr stark vom Verstand dominiert und so verbaut er sich den Zugang zum Geheimnis. Der Verstand herrscht anstatt zu dienen. Der Verstand versucht in Bereiche einzudringen, die sich ihm entziehen. Ebenso wenig wie ein Mikroskop geeignet ist, die Sternenwelt zu erkunden, genauso kann unser Verstand nicht in das Geheimnis der höchsten Wirklichkeit eindringen. Wenn er das trotzdem tun möchte und dabei natürlich zu keinem Ergebnis kommt, sagt er: es gibt da nichts.
So wird der Verstand zu einem Instrument des Egos. Der Verstand, der uns in fast jedem Augenblick unseres Wachzustandes hilfreich ist, kann auch, wenn er übermächtig wird, eine fatale Rolle annehmen, nämlich, er kann uns an unserer Weiterentwicklung hindern. Er zieht uns die Wärme aus dem Herzen, indem er alles kalt und mit einem Adlerblick beäugt, alles seziert, analysiert und somit zerstört. Für den kalten Verstand ist letztlich alles lächerlich, das mit Glauben zu tun hat. Glauben bedeutet für ihn nichts wissen, wie eine Redewendung sagt. Glaube ist für den kühlen Verstand Unwissenheit, Unlogik, Naivität.
Ich sagte vorhin, dass (spirituelle) Lehren die Hüllen der Wahrheit sind. Diese Hüllen sind mehr oder weniger durchsichtig. Sie können die höchste Wahrheit eher verbergen oder eher durchscheinen lassen. Sie können die Wahrheit verdrehen oder eine Ahnung von der höchsten Wahrheit vermitteln. Der Mensch heute will aber oftmals keinerlei spirituelle oder religiöse Lehren hören. Sicher, das ist verständlich, da Religionen oft auf dogmatische Weise ihre Lehren verbreitet haben und es auch heute noch vielfach tun, und somit jede Lehre unter den Verdacht gerät, dogmatisch gemeint zu sein. Wir können eine Lehre jedoch als ein Codewort verstehen: Der Code eröffnet einem eine Schatzkammer. Diese Schatzkammer kann von unterschiedlicher Größe und Helligkeit sein. Statt Schatzkammer könnte man auch sagen: Tiefenschicht. Auch hier kann es eine Tiefenschicht von unterschiedlichem Ausmaß sein.
Man könnte auch sagen, dass die Lehren und Überzeugungen wie der Zeigefinger sind, der auf den Mond zeigt. Im Zen sagt man: „Verwechsle den Mond nicht mit dem Zeigefinger, der auf den Mond zeigt.“ Verwechsle die Glaubenslehren und Überzeugungen nicht mit der absoluten, letztlich nicht fassbaren Wahrheit.
Glaube enthält, wie gesagt, das Eingeständnis unserer Begrenztheit, wir können dieses Eingeständnis Demut nennen. Demut ist heutzutage zu einem negativen Begriff geworden, weil man Demut mit Kriecherisch-Sein verwechselt, mit Unterwerfung. Paul Brunton sagt, dass Demut bedeutet, belehrbar zu sein oder nennen wir es lernfähig, da auch Belehrung zu einem negativen Wort geworden ist. Lernfähig zu sein heißt, bereit zu sein, sich zu verändern. Belehrbar sein meint das gleiche. Wir alle kennen natürlich unangenehme Formen der Belehrung, nämlich, wenn jemand als Besserwisser auftritt und die anderen als unter ihm stehend betrachtet, was das Wissen betrifft. Oft erhält man von Besserwissern ungebetene Ratschläge.
Demütig sein, belehrbar bzw. lernfähig sein, können wir aber auch ganz anders verstehen: Wir sind dann völlig unvoreingenommen, wir lassen los von dem, was wir schon immer gedacht und geglaubt haben. Wir nehmen dann nicht nur die Worte auf, sondern auch den Geist, der hinter den Worten steht. Wir nehmen etwas in uns auf, weil wir vertrauen. Wir sind bereit, gewohnheitsmäßige Einstellungen, gewohnheitsmäßiges Denken aufzugeben, weil wir eine größere Wahrheit als die bisher angenommene wittern. Wir lassen es zu, dass sich in uns, in unseren Einstellungen, unserem Denken und Empfinden etwas verändert. Auch das Leben will uns immer wieder belehren; täglich will es uns lehren, damit sich etwas verändert im Denken, Fühlen und Handeln.
Noch einmal möchte ich die von Paul Brunton genannten Grundvoraussetzungen für spirituelles Wachstum nennen: Glaube, Demut und Sehnsucht. Im Glauben ist auch Sehnsucht enthalten. In der Sehnsucht suchen wir nach etwas. Wir suchen nach dem Wahren, Schönen und Guten. Wir suchen nach etwas, das trägt, nach Geborgenheit. Wir können uns nicht in etwas geboren fühlen, das wir als unwahr, hässlich und schlecht erleben.
Sich sehnen bedeutet, etwas „liebend verlangen“, und das Wort Sucht in Sehnsucht kommt von Suche. Sehnsucht ist also eine Suche, bei der wir etwas liebend verlangen. Die Sehnsucht steht oft ganz am Anfang des spirituellen Weges. Vielleicht kann man diese Sehnsucht gar nicht benennen, d.h. man kann gar nicht sagen, wonach man sich eigentlich sehnt. Hinter jeder krankhaften Sucht steckt auch die Sehnsucht, eben diese Sehnsucht nach etwas Unbekannten, letztlich ist es eine spirituelle Sehnsucht. In der Sucht wird die Sehnsucht jedoch sozusagen missverstanden und auf schädliche Weise gelebt. Dass sich ein süchtiger Mensch letztlich nach der Geborgenheit im Überweltlichen sehnt, wird dadurch deutlich, dass Suchtkranke am ehesten durch Spiritualität geheilt werden können, weil sie dadurch eben diese Geborgenheit finden.
Nelly Sachs schrieb in einem Gedicht: „Alles beginnt mit der Sehnsucht“. Auf dem spirituellen Weg steht die Sehnsucht nicht nur am Beginn, sondern sie durchzieht den ganzen Weg, weil wir ja das, wonach wir uns sehnen, nie vollkommen erreichen können. Das Unerreichbare geht immer vor uns her. Deshalb begleitet uns die Sehnsucht immer, solange wir innerlich lebendig sind. Und es ist dabei wichtig, dass wir Sehnsucht auch aushalten; immerhin ist Sehnsucht kein rein angenehmes Gefühl, sondern beides: schön und schmerzhaft. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten.
Von Sehnsucht und immerwährender Unerreichbarkeit des Ersehnten spricht auch das Gedicht des türkischen Dichters Nazim Hikmet, wenn er schreibt:
„Das Schönste der Meere ist jenes, das wir noch nicht sahen. Das Schönste der Kinder ruht noch in bergender Wiege. Die Tage, die schönsten, sind jene, die wir noch nicht lebten. Und, was ich Dir noch sagen möchte, das Schönste – ich habe es Dir noch nicht gesagt.“
Empfehlung für den Alltag – Einen Baum umarmen
Gehe in einen Wald, Park oder in ein Naturschutzgebiet. Wichtig ist, dass du das Gefühl hast, bei der folgenden Übung nicht beobachtet oder gestört zu werden. Suche dir einen Baum aus, indem du nach innen spürst: welcher Baum zieht mich an?
Betaste den Baumstamm mit beiden Händen. Wie fühlt er sich an? Rauh, trocken, kalt? Gleichzeitig werden dir durch das Betasten auch Details deutlicher werden. Im Betasten sieht man das deutlicher, das man betastet; man sieht Details, die einem entgangen wären, wenn man nur hingeschaut hätte.
Du kannst am Baumstamm riechen und auch die Geräusche ringsum wahrnehmen.
Dann umarme den Baum. Wie fühlt es sich an? Spürst du das Wesen des Baumes? Du kannst beim Umarmen auch in die Krone hinaufschauen. Du kannst die Augen schließen und die Stellen deines Körpers spüren, die den Baum berühren.
Bleibe bei dieser Begegnung eine Weile. Möchtest du dem Baum etwas sagen -laut, leise oder nur innerlich? Bevor du gehst, kannst du dich, wenn du möchtest, von dem Baum verabschieden.