Ich-Zentriertheit oder Gelassenheit

„Wenn es kein Hindernis für das Auge gibt, schauen wir. Wenn es kein Hindernis für das Ohr gibt, hören wir. Wenn es kein Hindernis für den Kopf gibt, werden wir weise. Wenn es kein Hindernis für das Herz gibt, werden wir froh.“ (Chinesischer Spruch)

Häufig stellt man fest, dass Menschen jahre- und jahrzehntelang meditieren und man kann bei ihnen keine positive Veränderung feststellen. Woran liegt das? Es liegt wohl daran, dass sie ihre Ichbezogenheit nicht aufgegeben haben, dass sich ihre Ichbezogenheit womöglich sogar noch verstärkt hat. Und das merkt man selbst eher weniger, doch die Umwelt nimmt es wahr, denn wir alle haben blinde Flecke, das bedeutet: Unvorteilhafte eigene Eigenschaften können wir oft nicht sehen, wohl aber bemerken es Menschen in unserem Umkreis. Natürlich gibt es auch Bereiche in der Persönlichkeit, die sowohl einem selbst als auch anderen verborgen sind. Darüber hinaus existiert etwas, das vollkommen verborgen ist: das tiefere Selbst, man kann es auch das „wahre Wesen“ nennen oder „das Göttliche in uns“. Doch nun geht es um unsere mehr oder weniger sichtbare Persönlichkeit.

Wie merkt man, ob ein Mensch seine Ichbezogenheit weitgehend abgelegt hat? Der Mensch ist einfach, auch in Schwierigkeiten. Es ist angenehm, mit einem solchen Menschen zusammen zu sein.  Es ist nicht etwa so, dass dieser Mensch, wenn er mit Problemen konfrontiert ist, sie herunterspielt und einem künstlichen Daueroptimismus huldigt, sondern er kann Probleme schneller annehmen, wenn sie unveränderbar sind.

Ein Mensch, dessen Ichbezogenheit stark abgenommen hat, ist flexibel, er kann gut zuhören, er braucht immer nicht gleich zu reagieren. Er ist verlässlich und entspannt. Er hält sich selbst nicht mehr für so wichtig. Ein stabiler Mensch kann Kritik aushalten, er ist belastbar, freigiebig und gütig. Da ist kein Überlegenheitsgefühl, man hält sich nicht für ganz besonders spirituell, denn man weiß: Egal wie weit man gekommen ist, hat man noch einen weiten Weg vor sich.

Kann man denn ohne bewusst praktizierte Spiritualität spirituell wachsen? Ja, natürlich, nämlich durch Lebenserfahrung. Das Leben ist ein Lehrer, ein Meister, der manchmal unbarmherzig sein kann. Durch die Lebenslehren kann man zu einer Gelassenheit kommen, die spirituell ist. Das spirituelle Streben unterstützt diesen Reifungsweg. Gelassenheit bedeutet: sich selbst loslassen, obwohl oder gerade weil man innerlich stabil ist.

Wie steht es nun mit der Ichstabilität eines ich-zentrierten Menschen? Die Ichzentriertheit wirkt ich-schwächend. Dieser Satz scheint ein Paradox zu sein. Ich will ihn näher ausführen: Ein ichzentrierter Mensch, im extremen Fall ein Egomane, ist im Grunde ein ichschwacher Mensch. Anders gesagt: Ein egoverhafteter Mensch hat ein fettes Ich und kein starkes, stabiles Ich. Genauso wie körperliche Fettsucht nicht gesund ist, ist auch ein fettes Ich nicht gesund. Beides macht den Eindruck von Stärke, ist jedoch genau das Gegenteil. Ein starkes Ich ist ein gesundes Ich.

Wenn wir uns selbst einmal ganz ohne Eitelkeit anschauen würden – was wegen der blinden Flecke nicht so einfach ist – würden wir feststellen, dass wir wahrscheinlich eher nicht so stabil sind, dass wir möglicherweise leicht kränkbar sind, leicht die Fassung verlieren, dass es uns an Gelassenheit fehlt usw. Keine Sorge: Wir gehören mit all diesen Schwächen zu einer großen Menschheitsgemeinschaft, kein Mensch ist völlig frei von Ich-Zentriertheit. Die gute Nachricht ist: Wir können ja etwas tun, nämlich immer mehr die Achtsamkeit erlernen. Achtsamkeit wirkt stabilisierend, es ist eine Stabilisierung des Ichs im positiven Sinne, nicht im neurotischen Sinne der Ich-Aufblähung. Doch wie ich im Vortrag “Um sich selbst kreisen“ (s. o.) geschrieben habe, gilt es hier, Extreme und Zwanghaftigkeit zu vermeiden, sich also nicht aufzuerlegen, immer und überall achtsam sein zu müssen.

Was uns ebenfalls stabilisiert, ist die Dankbarkeit für das, was wir im Leben geschenkt bekommen haben, wohingegen uns immer wiederkehrende Gedanken daran, was wir alles nicht bekommen haben und was uns das Leben erschwert hat oder immer noch erschwert, all diese Gedanken destabilisieren, wenn sie häufig auftreten und gepflegt werden. Und dann ist als Drittes nicht zu vergessen: Der Dienst an anderen Wesen, an Menschen, Tieren und Pflanzen, der Dienst an einer Sache wird uns stabilisieren.

Denn dabei vergessen wir das Ich, wir kommen in den angenehmen Zustand der Selbstvergessenheit und gelangen in den Fluss. Selbstvergessenheit bedeutet: Wir geben etwas in die Gesellschaft hinein, wobei unsere Motivation, hilfreich sein zu wollen, im Vordergrund steht. Steht dagegen die Frage im Vordergrund: „Habe ich jemanden damit beeindrucken können? Finden mich jetzt alle toll?“ dann sind wir eben nicht selbstvergessen. Auch Selbstlosigkeit wird eine Prise Ich-Zentrierung enthalten, weil wir Menschen nicht vollkommen sind; es geht einfach darum: Was steht im Vordergrund: der Wunsch, Gutes zu tun oder dafür bewundert zu werden?

Ich-Stabilisierung durch Selbstvergessenheit bzw. Ich-Vergessenheit, das klingt doch paradox, ist es aber nicht. Je mehr wir uns bei einer Sache, bei einem Engagement selbst vergessen, desto mehr Leichtigkeit, desto mehr Flow kommt in unser Tun. Denn dieses Engagement, diese Hingabe wird ja von irgendeiner Form von Liebe getragen.

Im Gegensatz dazu bedeutet angestrengtes Tun: Das Ich steht im Vordergrund. Wir vergessen uns nicht selbst, und so erschöpfen wir uns viel schneller. Der Gegensatz davon ist das Tun für andere, es ist der Dienst an einer Sache – ohne sich zu verleugnen, ohne gegen die eigene Natur zu arbeiten: Sich selbst so lieben wie den Nächsten, den Nächsten so lieben wie sich selbst. Dabei tun sich unglaubliche Energiequellen auf, und man wird bei weitem nicht so schnell erschöpft.

Wenn man das so hört, kann es passieren, dass man sich, wie ich es schon zuvor angesprochen habe, doch recht ichzentriert vorkommt, weil man oft etwas angestrengt oder sogar mit Abneigung macht. Man kann nicht immer und überall so leicht von sich absehen. Und tatsächlich schleicht sich das Ego ja überall hinein, auch in den Dienst an anderen.

Dazu kommt noch ein weiterer Faktor, der uns nicht so leicht aus der Ichzentrierung herauskommen lässt, nämlich eine überdurchschnittliche Sensibilität, die man gehäuft unter spirituell Suchenden findet. Hochsensible sind meist nicht sonderlich gelassen, weil ihre Emotionen sehr stark sind, sowohl die positiven als auch die negativen. Hochsensible sind auch weniger belastbar. Andererseits hat sie gerade die Hochsensibilität auf den spirituellen Weg gebracht. Sie haben allerdings durch ihre Hochsensibilität einerseits einen schwierigeren Ausgangspunkt, andererseits sind ihre Feinfühligkeit und die Tiefe ihrer Empfindung von hohem spirituellen Wert. Hochsensible sind meist kein Fels in der Brandung. Auch können sie sich schlechter konzentrieren und im Hier und Jetzt verweilen. Von daher fällt ihnen oft auch das Meditieren schwerer.

Hochsensibilität ist weitgehend angeboren; man merkt es schon bei Babys: es gibt leicht irritierbare Babys und Babys, die pflegeleicht sind. Wenn dann noch Traumata dazukommen, steigt die Hochsensibilität. Und Traumata sind nicht nur einzelne Schockerlebnisse, sondern die ganze Kindheit kann traumatisierend gewirkt haben. Traumata ohne eine angeborene Hochsensibilität können ebenfalls ein Ausgangspunkt sein, von dem aus man sich auf den spirituellen Weg macht. Am Anfang der spirituellen Suche steht fast immer ein Leiden.

Zu Beginn sagte ich, man könne oft feststellen, dass Menschen, die jahrzehntelang meditieren, leider häufig durch Meditation nicht verwandelt würden, vielleicht sogar noch egoverhafteter würden. Der Sinn von Meditation ist jedoch letztlich die Transformation. Mit Verwandlung oder Transformation ist etwas anderes gemeint als Selbstoptimierung, die heute sehr in Mode gekommen ist. Was ist der Unterschied zwischen Verwandlung und Selbstoptimierung?

Bei der Selbstoptimierung geht es vielfach um körperliche Perfektion: Man möchte Idealen von Schönheit und Schlankheit entsprechen, was durch optimale Kleidung verstärkt werden soll. Dabei geht es darum, andere zu beeindrucken, was der Ich-Zentrierung zuzuordnen ist. Und nicht nur das: Der Körper soll auch fit und gesund sein. Man möchte aus dem Körper das Beste herausholen. Ein gesunder Körper soll ein langes Leben mit größtmöglichem Wohlbefinden garantieren.

Selbstoptimierung bezieht sich jedoch nicht nur auf den Körper: Man möchte seine Fähigkeiten und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale ausbauen und hat dabei immer ein Maximum im Blick. „Immer höher, immer besser, immer weiter, immer schneller“, das ist die Devise der Selbstoptimierung, ein optimales Leistungsvermögen ist eingeschlossen. Schließlich wird der Selbstoptimierungsdruck zum Stress. Hat man ein Ziel erreicht, muss man zum nächsten jagen. Selbstoptimierung geschieht aus dem Ego heraus, es dient dem Ego und es verstärkt das Ego.

Im Gegensatz dazu steht die Transformation, die Verwandlung. Man kann sich nicht selbst verwandeln, sondern man wird verwandelt. Was man selbst dazu tun kann, ist, den Boden zu bereiten. In der Offenheit dafür, verändert zu werden, hält sich das Ego im Hintergrund, es ist nicht der Macher, nicht die Instanz, die etwas auf Biegen und Brechen erreichen will. Bei der Transformation geht es nicht darum, irgendjemanden zu beeindrucken, sondern mehr Licht in die Welt zu bringen. Der Meditationslehrer Karlfried Graf Dürckheim sagte, dass der Sinn jeder spirituellen Übung sei, das Überweltliche in die Welt zu bringen.

In unserem Kulturkreis geht es vielen Menschen, die meditieren, ausschließlich darum, Wohlgefühle, Glücksgefühle und Ruhe zu erfahren. Natürlich will man sich lieber wohl als unwohl fühlen, lieber ruhig als unruhig, lieber glücklich als unglücklich sein.  Aber das sind Nebeneffekte von Meditation, die sich auch nicht immer einstellen, manchmal sogar selten auftauchen. Und das ist auch gut so, denn dann wird unser Beweggrund reiner. Wir lernen dann eher, von uns abzusehen, falls wir dann nicht die Meditation aus Enttäuschung aufgeben.

Wenn wir meditieren und dabei nicht nur uns selbst im Blick haben wollen, können wir uns vor jeder Meditationssitzung bewusstmachen, dass durch das eigene Meditieren etwas Segensreiches auch in die Welt kommt, ganz im Sinne einer buddhistischen Tradition, die empfiehlt, sich vor jeder Sitzung zu sagen: „Nicht nur für mich, sondern für die ganze Welt meditiere ich.“

Alle unsere Lebenserfahrungen, vor allem die bitteren, tun das ihre dazu, dass wir lernen, immer weniger um uns selbst zu kreisen. Es kann jedoch auch das Gegenteil passieren: Menschen werden durch bittere Lebenserfahrungen nicht in positiver Weise verwandelt, sondern verbittert. Bei alten Menschen kann man häufig Extreme feststellen: Entweder sind sie mürrisch oder unzufrieden geworden, oder aber sie strahlen eine gelassene, ruhige Heiterkeit aus. Gelassenheit bedeutet: Man lässt sich selbst los.

Ein Gegensatz zur Gelassenheit ist die Verbitterung. Sie entsteht, wenn wir verletzt wurden, von Menschen oder vom Leben selbst, und dann hadern wir mit dem, was wir erfahren haben. Manches Schicksal ist so schwer, dass es nur allzu verständlich ist, wenn ein Mensch sich lange Zeit dagegen auflehnt. Mehr oder weniger verlangen wir doch vom Leben, dass es uns einigermaßen gerecht behandelt, was das Leben aber nicht tut. Und so kann man leicht in eine Verbitterung hineingeraten. Verbitterung schwächt das Ich. Das Hinnehmen des Unabwendbaren und des Unveränderbaren dagegen macht uns stabil und letztlich glücklicher. Alles, was uns wirklich glücklich macht, macht uns stabil.

Ein chinesischer Spruch sagt: „Wenn es kein Hindernis für das Auge gibt, schauen wir. Wenn es kein Hindernis für das Ohr gibt, hören wir. Wenn es kein Hindernis für den Kopf gibt, werden wir weise. Wenn es kein Hindernis für das Herz gibt, werden wir froh.“ Was sind diese Hindernisse? Die Ich-Zentriertheit. Schon bei der sinnlichen Wahrnehmung des Schauens und Hörens kann das Ich sich so in den Vordergrund stellen, dass wir nicht hingegeben an das Geschaute und Gehörte sind. Sind wir jedoch ganz präsent in unseren Sinneswahrnehmungen, kommen wir in den Flow, in die Selbstvergessenheit. Das Hindernis für den Kopf, von dem hier die Rede ist, ist ebenfalls die Ich-Zentriertheit, die Verbohrtheit oder das Gedankenkarussell. Das Hindernis für das Herz kann sich in vielfältiger ich-zentrierter Weise zeigen: Da ist die Ängstlichkeit, die Ablehnung, die mangelnde Offenheit. Wenn sich diese Hindernisse auflösen, werden wir weise, und das Herz wird froh.