Die Erfahrung des Mangels und die Sehnsucht

„Selbst, wenn alles da ist, was wir je gewollt haben, und sich jeder Mensch, den wir lieben, im Umkreis unseres Lebens befindet, haben wir dennoch das Gefühl, dass irgendetwas fehlt. Wir sind nicht imstande, dieses fehlende Etwas zu benennen… Wir fühlen, dass etwas Lebenswichtiges außerhalb unserer Reichweite liegt, irgendwo im Unbekannten… Die Stimme kommt aus unserer Seele. Es ist die Stimme unserer ewigen Sehnsucht… Wenn wir mit dieser Sehnsucht Freundschaft schließen, wird sie uns helfen, uns daran zu erinnern, warum wir hier auf der Erde sind.“ (John O’Donohue)

Die Erfahrung des Mangels ist einer der Gründe, vielleicht sogar der Hauptgrund, warum es Spiritualität gibt, warum der Mensch nicht bei dem stehen bleiben will, was er schon erreicht hat, aber die Erfahrung des Mangels ist auch der Hauptgrund, warum es Süchte gibt.

Stellen wir uns nun einen Menschen vor, der immer zufrieden ist. Dieser Mensch würde sich um nichts bemühen, er würde nicht versuchen, weiter zu kommen. Alle seine Bedürfnisse wären befriedigt, es würde ihn nicht nach mehr verlangen. Das wäre ein Mensch, der aufgehört hätte, zu wachsen. Natürlich gibt es den immer satten und immer zufriedenen Menschen nicht.

Ob bewusst oder unbewusst sucht der Mensch nach mehr in seinem Leben. Wenn er alles Gewünschte erreicht hat, ist er eine Weile zufrieden, aber diese Zufriedenheit dauert nicht lange an, er sucht nach mehr. Und da gibt es zwei Möglichkeiten: Habe ich alles im beruflichen, materiellen, familiären Bereich erreicht, kann ich danach streben, noch mehr vom selben zu bekommen, also noch mehr Geld, eine noch höhere Position usw., oder aber ich kann danach streben, etwas anderes zu bekommen.

Menschen, die schon in jungen Jahren sehr erfolgreich waren, werden wahrscheinlich die erste Möglichkeit wählen: noch mehr Erfolg, noch mehr Geld, noch mehr vom selben. Menschen in der Lebensmitte merken aber häufig, dass dieses Mehr vom Selben sie nicht mehr befriedigt, sie möchten mehr von etwas anderem.

Wie oft geschieht es, dass Stars, Superreiche und erfolgreiche Künstler in Süchte oder Depression verfallen, wenn sie alles erreicht haben, was man erreichen kann. Als der indische Schriftsteller und Philosoph Rabindranath Tagore 1913 den Literaturnobelpreis erhielt – es war überhaupt das erste Mal, dass ein Asiate mit dieser hohen Auszeichnung geehrt wurde – verfiel er in eine Depression. Es kommt gar nicht selten vor, dass man depressiv wird, weil man etwas Ersehntes erreicht hat. Doch dieses Erreichte war dann immer etwas Äußerliches: ein Erfolg, ein Aufstieg, ein Zuwachs irgendeiner Art.

Was nun Süchte betrifft, so kann man sagen, dass der Mensch hier mehr oder weniger bewusst ein Mangelgefühl wahrnimmt, aber nicht richtig deutet. Das Mangelgefühl kommt letztlich von einer ungestillten Sehnsucht her. Sucht ist Ausdruck von Sehnsucht, nur falsch gedeutet und unangemessen ausgelebt. Unsere derzeitige Gesellschaft ist süchtiger denn je; jeder Mensch hat heutzutage zumindest eine kleine Sucht.

Jeder und jede Alkoholiker/in, Drogensüchtige, Arbeitssüchtige, Kaufsüchtige, Computersüchtige sucht unbewusst nach einer Erfüllung, die ihm die Droge nicht geben kann. Der Süchtige füllt sich mit der Droge, aber er bekommt nie genug, er wird nicht erfüllt davon, und deswegen kann er nicht aufhören. Der Süchtige hat seine Sehnsucht nicht verstanden.

Die deutsche jüdische Dichterin Nelly Sachs schrieb: „Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ Die Sehnsucht ist tief in jedem Menschen verankert. Die Sehnsucht ist Bestandteil seines Wesens. Nicht immer ist sie bewusst. Im Suchtverhalten zeigt sich die Sehnsucht auf eine unbewusste und unangemessene Weise. Jeder Mensch hat zumindest in einem geringen Ausmaß irgendeine Sucht, weil er auf die gesamte Wucht seiner Sehnsucht nicht entsprechend reagieren kann. Aber wenn man sich die eigene Sehnsucht bewusstmacht, beginnt man vielleicht, nach dem anderen, nach dem, was das Banale übersteigt, zu suchen. Dann entdeckt man die Sehnsucht in der eigenen Sucht und kann die Sucht zumindest ein Stück weit wieder in Sehnsucht zurück verwandeln.

Die Suche nach spiritueller Erfahrung scheint mir die angemessene Antwort auf die Sehnsucht zu sein. Im spirituellen Streben folgt man der Spur der Sehnsucht, denn die Sehnsucht meint letztlich das Transzendente, das, was uns und unser alltägliches Leben übersteigt. Und was geschieht dann, wenn man dieser Spur der Sehnsucht folgt? Statt sich mit dem voll zu machen, was einen letztlich nicht erfüllen kann, kann man eine tiefere Erfüllung finden. Aber es wäre eine weitere Illusion, wenn man glauben würde, dann ist man ein für alle Mal erfüllt. Die Sehnsucht wird immer nur zeitweise und bruchstückhaft gestillt, auch nach einer spirituellen Erfahrung.

Weil die Sehnsucht Bestandteil des menschlichen Wesens ist, muss der Mensch sich weiter sehnen können, nachdem eine Sehnsucht gestillt ist. Aus diesem Grund wird naturgemäß seine Sehnsucht immer nur teilweise oder kurze Zeit erfüllt werden und deshalb fällt man auch immer wieder aus den schönsten Erfahrungen von erfüllter Sehnsucht heraus. In einem rauschhaften Gefühl der Liebe und Verliebtheit können wir nicht ewig bleiben, ein ekstatisches Glücksgefühl hält nicht lange an, ein tiefer meditativer Zustand geht vorüber und macht banalen Gedanken und Gefühlen Platz. Nach Hochgefühlen kommen möglicherweise Gefühle von Öde und Langeweile.

Wir sind dem Wechsel unterworfen. Wir selbst sind Mangelwesen. Und wir werden immer wieder Mangel erfahren. Wir können keine beglückende Erfahrung festhalten, wir können Gott nicht in Besitz nehmen. Je mehr wir etwas von diesem Anderen, das den Alltag übersteigt, erfahren haben, desto größer wird die Sehnsucht. Wenn wir jedoch nicht einmal den Schimmer einer Ahnung von diesem Anderen haben, werden wir keine Sehnsucht danach empfinden können.  Man hat ja keine Sehnsucht nach etwas, das einem völlig unbekannt ist.

Die Mönche und Nonnen des Mittelalters um die Gabe der Tränen. Die Gabe der Tränen, das ist die Gabe der Sehnsucht. Solange Sehnsucht in uns lebendig ist, sind wir auf der Suche. Es ist gut, ein Leben lang Suchende zu sein.

Sehnsucht ist ein Spannungszustand: Es ist eine Spannung da zwischen dem, was ich will, aber sich mir – zumindest im Moment – entzieht. Sehnsucht fühlt sich halb schmerzhaft an, halb beglückend. Manche Menschen mögen die Sehnsucht nicht, weil sie eben auch einen schmerzhaften Aspekt hat. Doch ohne Sehnsucht gibt es keine innere Lebendigkeit. Wenn man z. B. einen Roman schreibt, dann ist es ganz wichtig, darauf zu achten, dass die Hauptpersonen in einem tiefgreifenden Konflikt stehen und irgendeine tiefe Sehnsucht haben. Ansonsten wird der Roman langweilig. Das können wir auf das Leben übertragen – denn ein Roman soll ja das Leben, so wie es ist, darstellen: Ein Leben ohne einen Spannungszustand und ohne Sehnsucht wäre langweilig.

Man kann sich im Aushalten von Spannung üben. Indem man z. B. hin und wieder auf sofortige Befriedigung von Bedürfnissen verzichtet, selbst da, wo es möglich wäre, sie sofort zu stillen. Man kann die Fähigkeit zu warten üben. Wir verlernen sie immer mehr. Wir wünschen uns etwas, und am nächsten Tag bringt es der Paketbote. Jeden Tag gibt es viele Möglichkeiten dazu, das Warten wieder zu üben. Im Warten muss man ja eine Spannung aushalten: Ich will etwas, das aber noch nicht da ist. Man wird unruhig, fragt sich: bekomme ich das oder nicht? Kommt er oder sie oder es – oder kommt es nicht. Wenn ich lerne zu warten, lerne ich Sehnsucht auszuhalten. In Hermann Hesses Roman „Siddhartha“ antwortet Siddhartha auf die Frage, was er denn alles könne: „Ich kann denken, ich kann fasten, ich kann warten.“ Fasten bedeutet verzichten, und wenn wir warten, verzichten wir auf sofortige Befriedigung.

Wenn wir einen Mangel aushalten, können wir in dem Moment, wenn der Mangel behoben ist, etwas intensiver oder tiefer erfahren. Wenn wir Hunger haben, wie phantastisch schmeckt danach das Essen! Haben wir einen geliebten Menschen lange nicht gesehen, wie intensiv wird das Wiedersehen erlebt! Wer über Tage hinweg pilgert, macht immer wieder die Erfahrung des Mangels an allem Möglichen: an Bequemlichkeit, an Nahrungsmitteln, vielleicht auch an Austausch mit einem Menschen. Aber wenn man dann mit einem anderen unbekannten Pilger ins Gespräch kommt, dann geschehen tiefen Begegnungen.

Eine extreme Erfahrung von Mangel beschreibt Antoine de Saint-Exupéry eindrücklich in seinem Buch „Wind, Sand und Sterne“. Er erzählt, wie er zusammen mit einem Freund in der nordafrikanischen Wüste abstürzte und fast verdurstete. Er und sein Freund bekamen Halluzinationen. Und da nähert sich ihnen ein Beduine, den sie zunächst auch für eine Halluzination halten. Aber dieser Beduine ist wirklich, und er reicht den beiden Verdurstenden ein Glas Wasser. Und dann beschreibt Exupéry, wie Wasser schmeckt. Es folgt geradezu eine Hymne auf das Wasser. Wasser ist für ihn in dem Moment das Leben selbst. Und die Hymne schließt auch den Beduinen ein, über den er schreibt: „Du bist der Mensch und erschienst mir mit dem Antlitz aller Menschen! Du hattest uns nie zuvor gesehen und hast uns doch erkannt! Du bist mein geliebter Bruder, und ich werde dich in allen Menschen wiedererkennen!“

Wie wir sehen, war es für Exupéry eine überwältigende Erfahrung, Wasser zu trinken, weil der Durst unendlich groß war, es war überwältigend, in der Einsamkeit der Wüste im Angesicht des Todes einem Menschen zu begegnen, der ihn rettet. Die Erfahrung dieses Mangels und der Aufhebung des Mangels führt ihn letztlich zu tiefer Dankbarkeit.

Abschließend möchte ich den deutschen Schriftsteller Ulrich Schaffer zitieren, der Folgendes über Sehnsucht und Suche schrieb: „Hinter der Suche nach Äußerem steht das Suchen nach dem Unfassbaren. Wir suchen nach dem Sinn, in dem das Verstreute unseres Lebens zusammenkommt. Wir suchen nach Erfüllung. Dabei mögen wir gleichzeitig Angst vor dem Finden haben, weil das Gefundene meistens hinter dem zurückbleibt, was wir ersehnt haben. Es ist, als ob die Sehnsucht unstillbar sein will. Für mich ist es wichtig, mir meiner Suche und Sehnsucht bewusst zu werden, ihr nicht nur ausgeliefert zu sein, sondern sie zu gestalten… Das Suchen ist die eigentliche Arbeit meines Lebens, weil ich dadurch auf das Wesentliche stoße.“