Naikan – Einübung in die Dankbarkeit

„Heute glauben viele, dass Glück die Quelle für Lebensfreude, Lebendigkeit, Vitalität ist. Nicht das Glück ist die Quelle der Lebensfreude, sondern die Haltung der tiefen Dankbarkeit. Jeder Augenblick ist eine Gelegenheit für ein Geschenk und die Dankbarkeit. Das braucht Achtsamkeit.“ (Br. David Steindl-Rast)

Heutzutage gibt es eine Unmenge von spirituellen Übungen. Wollte ein Mensch sie alle ausprobieren, würde ein ganzes Leben nicht ausreichen. Es gibt Übungen, die den Menschen überfordern und anstrengen, vor allem, wenn er glaubt, sie machen zu müssen oder zu sollen. Man setzt sich unter Druck, und meistens gibt man die Übungen bald auf. Und es gibt Übungen, die den Menschen auf eine falsche Fährte führen, nämlich dann, wenn sie ihm vormachen, dass er mit einer bestimmten Übung sein Wesen stetig optimieren oder alle negativen Gedanken auslöschen könnte.

Im Folgenden möchte ich eine Übung vorstellen, die ich für nicht überfordernd und für sehr realistisch halte, und die zudem einfach und leicht wiederholbar ist. Das ist ja das Grundprinzip, das der Zen lehrt: Eine geistliche Übung muss, um wirkungsvoll zu sein, zwei Charakteristiken aufweisen: Sie muss einfach und leicht wiederholbar sein.

Ich möchte über eine Methode sprechen, die die genannten Charakteristiken aufweist. Sie heißt Naikan und wurde von dem Japaner Ishin Yoshimoto im vorigen Jahrhundert entwickelt. Im Naikan geht es um drei Fragen, die man sich möglichst täglich stellt: 1. Was habe ich bekommen? 2. Was habe ich gegeben? 3. Welche Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet?

Nun zur ersten Frage: Was habe ich bekommen? – Wenn ein Mensch sagt: Ich bin immer nur am Geben und bekomme nichts oder zu wenig, dann unterliegt er in jedem Fall einem Irrtum, denn jeder Mensch bekommt viel mehr als er überhaupt geben kann. Wir bekommen jeden Tag den Sonnenschein, die Luft, das Gezwitscher der Vögel, den Gruß des Nachbarn. Das alles bekommen wir kostenlos.

Beim Naikan reflektiert man täglich darüber, was man bekam, dabei zählt man sich auch die Dinge auf, für die man bezahlen musste: das Brot, das uns die Verkäuferin gab, eine Dienstleistung, die wir bekamen – das alles haben wir doch bekommen, wir haben das zwar bezahlt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir es bekommen haben. Es ist nicht selbstverständlich. Wir haben Arbeit, oder hatten Arbeit und bekommen Geld, wodurch wir all das kaufen, also bekommen können. Wir bekommen Elektrizität. Die Geräte, die von anderen Menschen gebaut wurden, dienen uns. Aus dem Wasserhahn kommt Wasser. Wer denkt schon daran, dass das etwas ist, das man bekommt? Wir denken auch so gut wie nie daran, dass schon die Zeitung am Morgen, für die wir natürlich gezahlt haben, dadurch zu uns kommt, weil jemand ganz früh aufstand und in der Dunkelheit durch die Straßen ging. Jedes Ding, das wir berühren, könnte uns die Geschichte vieler Menschen erzählen, die es produziert haben und auf den Weg zu uns brachten.

Wenn man ein Tages-Naikan macht und reflektiert, was man in den letzten 24 Stunden bekommen hat, so könnte das so aussehen:

Was habe ich bekommen?

Aus: Gregg Krech, Die Kraft der Dankbarkeit – Die spirituelle Praxis des Naikan im Alltag, S. 44/45, einige Beispiele:

  • Mein Vater hat die Zeitung gekauft, die ich gelesen habe.
  • Linda hat mir einen Obstsalat zum Frühstück gemacht.
  • Ich habe den Pullover getragen, den mir mein Bruder schenkte.
  • Linda hat das Mittagsgeschirr gespült.
  • Meine Brille, die mir erlaubt, besser zu sehen
  • Die Wärme der Ölheizung
  • Einen Parkplatz vor dem Rathaus
  • Ein Chiligericht, Wasser und ein Stück Kuchen vom Personal des hiesigen Restaurants usw.

An diesen Beispielen sieht man, dass hier nichts ausgesondert wurde nach Gesichtspunkten wie etwa: Das war doch eine Lappalie, das ist doch selbstverständlich, das war doch ihre oder seine Pflicht, es zu tun oder er/sie bekommt ja schließlich Geld dafür.

Man kann diese Fragen gedanklich beantworten, aber noch besser ist es, die Antworten niederzuschreiben, denn durch das Schreiben fallen einem noch mehr Antworten ein; vieles wird einem bewusster.

Übung: Schreibe nun auf, was du alles am heutigen Tag bekommen hast.

Die zweite Frage im Naikan lautet: Was habe ich gegeben?

Gregg Krech bringt auf S. 45 u. a. folgende Beispiele:

  • Ich bin mit Rocky (unserem Hund) spazieren gewesen und habe ihn gefüttert.
  • Ich habe zwei Zimmerpflanzen gegossen.
  • Ich habe Linda die Schultern massiert.
  • Ich habe das Bad geputzt.
  • Ich habe Barbara eine Tasse Tee gemacht.

Man könnte auch hier sagen: Das ist doch alles selbstverständlich, oder das ist mein Job. Aber es ist nicht selbstverständlich, ich habe die Freiheit, all das nicht zu tun und tue es trotzdem für jemand anderen, einen Menschen, ein Tier, eine Pflanze.

Übung: Schreibe nun auf, was du alles am heutigen Tag gegeben hast.

Die dritte Frage im Naikan lautet: Welche Schwierigkeiten habe ich bereitet?

Beispiele aus demselben Buch von Gregg Krech, S. 46:

  • Zwei Leute riefen an, als ich unterwegs war, und mussten auf den Anrufbeantworter sprechen.
  • Ich habe zu meinem Vater eine Bemerkung über das Wetter und das Fliegen gemacht, auf die er ängstlich reagierte.
  • Auf der Straße habe ich während der Fahrt ein Eichhörnchen erschreckt.
  • Als ich am Flughafen nach passendem Kleingeld für den Parkplatz gesucht habe, habe ich mehrere Fahrzeuge hinter mir warten lassen usw.

Nun könnte man sagen: Das sind doch auch Lappalien und einiges davon geschah doch wirklich ohne böse Absicht. Oder aber, das liegt doch in der Natur der Sache, natürlich erschrecke ich Tiere, wenn ich Auto fahre, ich überfahre sogar tagtäglich alle möglichen kleinen Lebewesen. Soll ich denn nicht mehr Auto fahren? Oder wenn jemand mich telefonisch nicht erreichen kann, weil ich weg bin, heißt das, dass ich zuhause bleiben soll, damit mich nur ja immer jeder erreichen kann? Selbstverständlich nicht.

Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten, die man anderen bereitet, die nicht so absichtslos sind, d.h. man merkt: ‚Damit tue ich jemandem nicht gut‘, aber man kann seinen Impuls nicht beherrschen. Indem es wir es uns bewusstmachen, am besten beim Niederschreiben, verändert sich etwas. So wie das Geben und Nehmen eine Selbstverständlichkeit ist, so ist es im Leben auch nicht möglich, niemals jemandem Schwierigkeiten zu bereiten. Es geschieht täglich, zumindest in der „harmlosen“ Form, denn wir sind nicht vollkommen, und die Welt ist nicht vollkommen.

Naikan bedeutet erhöhte Achtsamkeit, nicht nur in der Frage, was habe ich bekommen und gegeben, sondern auch wo habe ich jemandem Schwierigkeiten bereitet, und es wird nicht moralisch bewertet. Es ist selbstverständlich, dass wir ständig anderen Schwierigkeiten bereiten, auch ohne es zu wollen. Wir sind nicht vollkommen, und die Welt ist nicht vollkommen. Naikan ist eine ganz neutrale, objektive Weise des Betrachtens. Es geht nicht darum, Schuld zu suchen, sondern nur darum, zu merken, was geschehen ist. Es geht um Einfühlung. Wie hat sich der andere gefühlt, weil er meinetwegen warten musste oder erschreckt wurde, auch wenn ich daran völlig unschuldig bin. Wenn man das immer wieder übt, wird man ganz achtsam.

Nun könnte man fragen: Wo ist die vierte Frage, nämlich: „Welche Schwierigkeiten haben mir andere bereitet?“ Die vierte Frage gibt es nicht, denn dass die anderen uns Schwierigkeiten bereiten, das merken wir sowieso, darüber denken wir ja oft genug nach.

Kaum eine Methode kann uns so aus dem Strom negativer Gedanken herausreißen wie Achtsamkeit und Dankbarkeit. Beides gehört zusammen. Aus Achtsamkeit entsteht Dankbarkeit.

Übung: Schreibe nun auf, welche Schwierigkeiten du jemandem am heutigen Tag bereitet hast.

Man kann auch einen Wochenrückblick oder auch Jahresrückblick machen. Man kann diese Methode in Bezug auf einen bestimmten Menschen anwenden, das kann z. B. die Mutter sein, gerade wenn man mit ihr Schwierigkeiten hatte oder noch hat und wenn die Kindheit so ganz anders verlaufen ist, als man sich das gewünscht hätte.

Manchen Menschen scheint es, dass die Mutter oder auch der Vater ihnen nicht viel gegeben hat. Vielleicht hat sich Mutter nicht wirklich für sie interessiert, vielleicht war sie hart. Gerade wenn die Elterngeneration den Krieg miterlebt hat, sind die Beziehungen zwischen den Eltern und ihren Kindern oft besonders schwierig, und da vor allem die Beziehung, die man als Frau zur Mutter hat. Oft setzt sich dieses schwierige Verhältnis noch in späteren Generationen fort, bis zu den „Kriegsenkeln“. Das mag alles sein, aber im Naikan geht das Augenmerk auf das, was man von der Mutter oder des Menschen, der die Mutter ersetzt hat, bekommen hat. Eigentlich fängt das schon im Mutterleib an. Wer etwa bis zum 20. Lebensjahr zuhause lebte, hat von der Mutter mehr als 7.000 Mittagessen bekommen, 7.000 Frühstücke und 7.000 Abendessen. Das ist alles nicht selbstverständlich.

Warum sind Menschen häufig so undankbar? Ishin Joshimoto nennt Gründe, warum Dankbarkeit misslingt:

Die Achtsamkeit fehlt. Man ist so in seinen eigenen Sorgen und Problemen verfangen, dass man die Geschenke um sich herum nicht wahrnehmen kann.

Es gibt einen Mangel an Reflexion.

Man sagt sich, der oder die andere weiß doch, dass ich dankbar bin.

Man zögert. „Ich werde mich schon irgendwann dafür bedanken“.

Man vergisst sich zu bedanken

Faulheit

„Es steht mir zu! Ich habe ein Recht darauf!“

„Das war doch seine/ihre Pflicht!“

„Diese Mühe des anderen ist doch nicht der Rede wert. Es ist nichts Besonderes.“

„Das war zwar nett von ihr, aber später hat sie mir Probleme bereitet.“

Der Gebende ist nicht da oder nicht bekannt. (Essen, Kleidung, Herd usw.)

Im Naikan wird Dankbarkeit auch ausgedrückt. Man wartet nicht erst auf ein Gefühl der Dankbarkeit, um es dann auszudrücken, sondern man macht es automatisch. Es geht einfach darum, sich bewusst zu werden: „Aha, hier ist wieder ein Grund dankbar zu sein“, und den Dank dann auszudrücken. Sie haben gemerkt, wie genau man es dabei nimmt.

Genau nimmt man es auch, wenn man Dank formuliert. Man sagt nicht einfach nur Danke, sondern „Danke, dass Du mir eine Tasse Tee gebracht hast“, „Danke, dass Du meinetwegen einen Umweg gemacht hast“, usw. Dadurch wird dem Dankenden bewusster, wofür er dankt und der Bedankte wird den Dank auch ehrlicher empfinden. Es kommt also zunächst nicht auf das Gefühl des Dankenden an, aber aus diesen Dankesworten und –handlungen, die man sich angewöhnt, wird schließlich eine Haltung und ein Gefühl, und man wird immer mehr und immer öfter Dank empfinden.

Im Naikan lernt man auch, anstatt sich ständig zu beschweren, zu loben und sich zu bedanken. Wenn man mit der Arbeit einer Firma zufrieden war, ruft man normalerweise nicht dort an, um diese Zufriedenheit auszudrücken, sondern nur, wenn etwas schiefgelaufen ist. Man kann es aber einmal anders machen, nämlich anrufen um zu loben und sich zu bedanken. Der Gesprächspartner wird bestimmt erst einmal hellhörig und wartet schon auf das „Aber“. Doch es kommt kein Aber.

Japaner, die Naikan üben, bedanken sich auch bei Gegenständen, wie z. B. dem Auto, das einen überall hinfährt, bei den Schuhen und der Kleidung, die einem dienen usw. Alle Gegenstände, die wir benutzen, dienen uns ja. Das bedeutet, man denkt nicht nur daran, wer alles an der Produktion des Gegenstandes beteiligt gewesen sein mag, sondern man würdigt auch den Gegenstand selbst. Uns Europäern mag das fremdartig erscheinen, aber auch manche westlichen Menschen empfinden diese Form von Dankbarkeit gar nicht mal so abwegig. Man könnte z. B., bevor man ein Paar Schuhe entsorgt, das einem jahrelang gedient hat, das man aber nun wegen Abnutzung nicht mehr tragen kann, ganz bewusst und vielleicht sogar mit einem Gedanken (und Gefühl) der Dankbarkeit wegwerfen.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Im Naikan wird die Frage gestellt: Was habe ich bekommen, und nicht: „Was habe ich nicht bekommen?“ Oder: „Was hat mir das Leben vorbehalten?“ Es ist sehr menschlich und verständlich, dass wir oft daran denken, was wir nicht bekommen haben, was das Leben uns vorenthalten hat, weil wir zutiefst an diesem Mangel leiden. Doch im Naikan macht man eine Wende zum Positiven hin: „Was habe ich bekommen?“

Die zweite Frage: „Was habe ich gegeben?“ hat nicht im Schlepptau die Frage: „Was habe ich nicht gegeben?“ „Wo habe ich versagt?“ „Was hätte ich geben sollen oder können?“ Solche Gedanken treten oft in Bezug auf verstorbene Angehörige auf. Ich würde sagen, diese Gedanken sollen nicht weggedrückt werden, aber immer wieder kann man sich die Frage in Bezug auf diesen Menschen stellen: „Was habe ich gegeben?“ Und die Schuldgefühle werden auf natürliche Weise abnehmen.

Und wie schon gesagt, wird auch nicht gefragt: „Welche Schwierigkeiten hat man mir bereitet?“ Mit dieser Frage würde man nur Gefühle von Verletzung immer wieder ins Bewusstsein holen, was auch wiederum sehr menschlich ist, aber was nicht guttut. Eine Verletzung wahrnehmen ist wichtig, aber sie immer wieder erinnern, hilft nicht, sondern schadet nur. Es wird also nur gefragt: „Welche Schwierigkeiten habe ich soeben, heute oder gestern jemandem, einem Menschen, einem Tier, ja, sogar einer Pflanze bereitet?“

Der Mensch hat die Neigung, das Negative besonders zu bemerken. Das haben wir über Generationen seit Urzeiten gelernt, und diese Neigung hatte und hat eine wichtige Funktion: Sie schützte und schützt uns vor Gefahren, sie bringt uns dazu, das, was nicht in Ordnung ist, in Ordnung zu bringen. Doch oft bleibt man unnötigerweise am Negativen hängen. Trotzdem halte ich es für eine anstrengende und überfordernde Methode, wenn man ständig Jagd auf negative Gedanken macht und sie sofort im Keim ersticken will. Viel natürlicher finde ich die Methode des Naikan. Hier werden wir ganz natürlich auf das Positive gelenkt, und es wird nicht gelehrt, dass wir negative Gedanken nicht haben dürften. Um dankbar zu sein, brauchst du kein glücklicher Mensch sein, aber wenn du dich in Dankbarkeit übst, wirst du glücklicher werden.