Nonkonformismus

„Macht euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes!“ (Römer, 12,2)

Wir Menschen sind zutiefst soziales Wesen. Wir treten in Beziehung zu anderen, wir können uns in den anderen einfühlen, wir brauchen Gemeinschaft. Ohne sie gehen wir unter. Der Mensch fügt sich in die Gemeinschaft ein, passt sich ihr an. Diese Anpassung kann aber so weit gehen, dass sich der Mensch selber verleugnet, dass er seinen Überzeugungen, seinem Gewissen untreu wird, seine Wahrnehmung ignoriert, weil er mit der Masse mitschwimmen will.

Wir werden häufiger vom Sog der Masse bestimmt als wir merken. Wie weit der Mensch seine Wahrnehmung und sein Gewissen verleugnet, wurde in vielen Tests festgestellt. In einem Experiment wurde eine Rauchwolke in das Wartezimmer einer Arztpraxis geblasen, die immer stärker wurde. Die Mehrheit der Wartenden waren in den Test Eingeweihte. Ein paar ahnungslose Patienten machten zunächst besorgte Mienen, doch die Mehrheit reagierte gleichgültig, einige lasen weiter in der Zeitschrift, andere schauten teilnahmslos drein. Niemand von den Uneingeweihten fragte nach oder beschwerte sich. Man hat herausgefunden: Unter dem Sog der Mehrheit folgen etwa Dreiviertel der Menschen nicht der eigenen Wahrnehmung.

Wenn wir im Kaufhaus um einen Wühltisch herum ganz viele Menschen stehen sehen, dann wollen wir auch wissen, was es denn da so Besonderes im Angebot gibt. Denn wenn eine Sache viele Menschen in den Bann zieht, muss sie doch begehrenswert sein. Wenn 90 % aller Menschen in Deutschland Fleisch essen, sagt man sich, dass es doch nicht verwerflich sein könne. Wie würden wir aber handeln, wenn 90 oder gar 99 % der Bevölkerung Vegetarier wären und man das Fleisch nur in ganz bestimmten kleinen verruchten Läden in Hinterhöfen bekäme? Wir würden diese Orte dann vielleicht nur bei Dunkelheit aufsuchen und das Fleisch heimlich verzehren. Wenn aber etwas Normalität ist, so glauben wir, dann könne es doch nicht verkehrt sein. Die Mehrheit kann jedoch einer großen Illusion, einem großen Irrtum unterliegen. Das haben wir nicht nur in Deutschland erlebt, wo sich 1933 die Mehrheit für ihr Unglück in einer demokratischen Wahl entschied. Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften unterlag und unterliegt die Mehrheit immer wieder großen Täuschungen, die mehr oder weniger grausame Konsequenzen mit sich bringen.

Wir werden von dem, was die Mehrheit denkt und tut, beeinflusst. Wenn die höchsten Werte Besitz, Status, Konsum und Genuss sind, dann erfordert es Mut, anders zu denken und es auch auszudrücken und anders zu handeln, zumal wenn es nach außen sichtbar wird. Man schämt sich vielleicht, weil man Urlaub im Bayerischen Wald macht anstatt sich auf Fernreisen und Kreuzfahrten zu begeben.

Die allgemeine Tendenz geht ja in Richtung: immer höher, besser, schneller, schöner, immer mehr leisten, immer mehr haben, und immer weiter weg reisen. Diese Steigerungsmentalität zeigt sich sogar im Negativen: Ein bekannter Kabarettist, der mit besonders heftigen Zoten auftritt, sagte: „Das Publikum erwartet immer eine Steigerung. Wenn der Auftritt vulgär ist, muss der nächste Auftritt noch vulgärer sein.“

Wenn wir uns von der Masse absetzen, werden wir ein wenig einsamer sein. Wenn wir nicht mehr sagen, was alle sagen und nicht mehr tun, was alle tun, werden wir vielleicht schief angesehen und nicht mehr so anerkannt. Möglicherweise werden wir in Schubladen gesteckt, in die wir sicherlich nicht hineinwollen. Und wir wissen ja, wie das ist, wenn man in Schubladen gesteckt wird: Man wird nicht mehr als Individuum gesehen, sondern als ein bestimmter Typus und man kommt nur sehr schwer wieder aus einer Schublade heraus. Nicht konform zu laufen, also ein Nonkonformist zu sein, erfordert Stärke.

In einer Predigt mit dem Titel „Verwandelte Nonkonformisten“ sagte Martin Luther King: „Viele Stimmen und Kräfte drängen uns, den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen, niemals für eine unpopuläre Sache zu kämpfen und sich niemals zu zweit oder zu dritt in einer kläglichen Minderheit zu befinden.“ Dabei berief sich Martin Luther King auf eine Stelle aus dem Neuen Testament, die lautet: „Macht euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes!“ (Römer, 12,2)

Die Geschichte lehrt, dass diese kläglichen Minderheiten, von denen M. L. King spricht, schon oft die Gesellschaft verändert haben. Alles Umwälzende fing einmal klein an. Alle Menschen, die die Gesellschaft verändert haben, waren Nonkonformisten. Jedoch genügt Nonkonformismus allein noch nicht, er ist nicht immer konstruktiv, sondern er kann nur verwandeln, wenn er von Menschen getragen wird, die selbst verwandelt sind. Ohne Liebe wird der Nonkonformismus leicht zum Fanatismus. Fanatismus ist immer ungeduldig. Schöpferischer Nonkonformismus ist jedoch Menschen zu eigen, die etwas in sich verwandelt haben, die frei sind von der Illusion, die Welt könne wesentlich geändert werden und sie selber wären ungeheuer wichtig für die Welt. Es sind Menschen, die geduldig und weise genug sind, indem sie so handeln, als ob es möglich wäre, die Welt wesentlich zu ändern, obwohl sie wissen, wie geringfügig ihr Beitrag ist.

Martin Luther King sagte: „Wir müssen uns entscheiden. Wollen wir nach dem Trommelschlag des Konformismus weitermarschieren, oder wollen wir auf den Schlag einer anderen, ferneren Trommel lauschen und nach ihrem Takt ausschreiten? Wollen wir unseren Schritt der Musik der Welt anpassen, oder wollen wir trotz Hohn und Spott der Musik der Ewigkeit folgen?“

Was für eine schöne Metapher verwendet King hier: Wollen wir nach dem Trommelschlag des Konformismus marschieren oder auf den Schlag einer anderen, ferneren Trommel lauschen? Eine fernere Trommel, das ist die Trommel, die kaum jemand hört, weil ihre Töne zart sind, weil sie übertönt werden von den lauten Trommelschlägen. Diese ferne Trommel spielt die Musik der Ewigkeit, sagt er. Die Musik der Ewigkeit hören wir, wenn wir nach innen lauschen, auf die Stimme des Gewissens, auf unsere verfeinerte Wahrnehmung. Wir brauchen feine Antennen, um diese Musik zu empfangen.

Es gibt allerdings auch einen Kult des Anders-sein-Wollens. Er kommt aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus und tarnt sich als Überlegenheitsgefühl, als Gefühl auch, etwas Besonderes zu sein. Beides, das Überlegenheitsgefühl und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, sind narzisstisch. Einem solchen Kult geht es nur um die eigene Person und deshalb trägt er wenig oder keine Verwandlungskraft in sich oder aber bringt sogar nur destruktive Veränderungen. Es geht darum, dem Sog der Masse zu widerstehen. Dann wird man anders sein und anders denken, ohne darauf abzuzielen, anders zu sein und sich von anderen zu unterscheiden. Vielleicht wird es sogar zur Bürde, anders zu sein. Diese Bürde aber dient letztlich der Gesellschaft.