Toxische Positivität – toxische Negativität

„Wir haben damit begonnen, die Wirklichkeit zu modifizieren, um sie besser ertragen zu können. Dafür blenden wir die Vorstellungen aus, die unseren Vorstellungen im Wege stehen. […] Wenn aber nur noch die eine, die positive Hälfte des Lebens stattfinden darf, wenn sämtliche dunklen Aspekte übertüncht werden, wird die menschliche Existenz buchstäblich zu einer halben Sache.“ (Tobias Haberl)

Immer mehr junge Menschen vergleichen sich mit Instagram-Vorbildern und werden dabei unglücklich, weil ihnen eine Welt vorgegaukelt wird, in denen Menschen nur noch glücklich, positiv gestimmt, schön, schlank und erfolgreich sind. Auf Facebook sehen sie Fotos von den Fernreisen ihrer zahllosen Facebook-Freunde, die ihnen das Gefühl vermitteln, dass andere Menschen ein abenteuerlicheres, genussvolleres Leben als sie selbst führen.

Hinzu kommt eine Ideologie, die suggeriert, dass man immer positiv denken und gut gestimmt sein soll. Man spricht hier von toxischer, d. h. giftiger Positivität. Wie alles, kann auch der Optimismus eine dunkle, schädliche Seite haben: Man fällt aus dem Gleichgewicht, indem man künstlich und zwanghaft in allem immer nur das Positive sehen will. Die Folge davon ist Niedergeschlagenheit; das Negative kommt irgendwann durch die Hintertür herein, denn im Leben muss es – wie in der gesamten Schöpfung – immer Positives und Negatives geben.

Wie zeigt sich die toxische Positivität? Jeder negative Gedanke, jedes Gefühl von Unwohlsein, alles Unangenehme, das uns von außen begegnet, wird als „schlecht“ bewertet. Alles wird ins Positive umgedeutet. In Gesprächen passiert es dann oft, dass man, wenn einem der Gesprächspartner von etwas Leidvollem in seinem Leben erzählt, es zudeckelt mit Worten wie: „Man muss alles annehmen“, „Daraus kannst du nur lernen“, „Verzeihe es und vergiss es“ usw. Natürlich will man in Gesprächen ermutigen und nicht entmutigen, aber sowohl bei diesen Standardsätzen, die man anderen und sich selbst vorsagt, wird versucht, emotionale Abkürzungen zu nehmen, und schon bei Anflügen von Traurigkeit wird zwanghaft gute Stimmung verordnet. Das bedeutet: Man hat das Positive einfach zu schnell parat. Authentische Gefühle werden verleugnet, verkleinert und entwertet. Kurzfristig kann das helfen, aber auf Dauer schadet es, sich selbst und anderen gegenüber unehrlich zu sein.

Wenn wir das Negative nicht fühlen wollen oder es auch bei anderen nicht zulassen und mit Positivem überdecken wollen, verdrängen wir und möchten auch andere dazu bringen zu verdrängen. Emotionen werden aber verstärkt, wenn sie verdrängt werden. Alles Ungelöste kehrt wieder, und wenn es wiederkehrt, zeigt es sich meist in einer heftigeren Form.

In einem Expe­ri­ment beka­men zwei Grup­pen Videos von medi­zi­ni­schen Ein­grif­fen gezeigt. Die einen soll­ten dabei ihre Gefühle zeigen, die ande­ren beka­men die Vor­schrift, sich nichts anmer­ken zu lassen. Das Ergeb­nis war: Bei den­je­ni­gen, die ihre Gefühle unter­drück­ten, wurden stär­kere körperliche Reak­tio­nen auf die unan­ge­neh­men Bilder gemes­sen. D. h. die Menschen, die ihre Gefühle dabei nicht zeigen duften, waren körperlich – und damit auch seelisch – belasteter.

Würden wir dem anderen Extrem folgen und ständig unsere Gefühle ausdrücken, egal, um welche es sich handelt, wäre das ein Zeichen mangelnder Selbstkontrolle, wohingegen es gesund ist, das wahrzunehmen, was in einem hochkommt und es nicht wegzuschieben. Das Gesunde liegt wie immer in der Mitte: Nicht alles jedem mitteilen, aber auch nicht alles vor jedem verstecken.

Wenn ich Menschen erlebe, die eine Art Dauerstrahler sind und von sich niemals etwas erzählen, das einen Hauch Negatives enthält und die auch nichts dergleichen hören wollen, dann habe ich das Gefühl, dass ich ihnen gar nicht begegnen kann, weil das nicht echt ist, weil da gespielt wird. Und wenn man einem Gesprächspartner nicht begegnen kann, ist man im Kontakt mit ihm einsam, obwohl man gemütlich zusammensitzt. Die Maske der Positivität macht den Kontakt oberflächlich.

Unterdrücken wir unangenehme Gefühle, reden wir unangenehme Situationen schön, kann es keine Veränderung geben. Gehen wir aber dem Gefühl oder der Situation auf den Grund, dann sind wir motiviert, etwas dagegen zu tun, auch wenn es immer wieder Situationen gibt, bei denen wir machtlos sind. Da ist dann die einzige Möglichkeit tatsächlich das Annehmen, aber dazu kann man sich nicht durch schöne Worte zwingen oder zwingen lassen. Es kann ein langer Prozess sein und vielleicht kommt man nie dahin, eine bestimmte Situation anzunehmen. Auch das gehört zum Leben.

Die sehr verbreitete Welle einer übertriebenen Positivität, die nicht nur auf Instagram anzutreffen ist, sondern auch in Kalendersprüchen und vor allem in Unmengen von esoterischen Ratgebern der „Denk-immer-positiv“-Welle zu finden ist, gibt Menschen, die nicht sonderlich glücklich sind, das Gefühl, versagt zu haben, es nicht richtig zu machen, nicht die richtigen Gedanken zu denken. Auch deshalb ist übertriebene Positivität toxisch, giftig.

Natürlich gibt es auch das genaue Gegenteil, nämlich die toxische, also giftige, schädliche Negativität. Anders als die toxische Positivität hat man sich die toxische Negativität nicht selbst ausgesucht. Man hat sich nicht dafür entschieden, pessimistisch und dem Leben gegenüber misstrauisch zu sein, und man pflegt sie auch nicht künstlich, denn man spürt ja, dass man sich und andere damit belastet, aber man empfindet einfach so. Es ist viel leichter, die künstlich geschaffene toxische Positivität aufzugeben, wenn man ihre problematischen Seiten durchschaut hat als das Gegenteil davon, die übertriebene Negativität, die einen immer wieder überkommt.

Bei der toxischen Negativität gerät man, ohne dass man es will, in eine Abwärtsspirale. Sie ist eine Folge von Traumatisierung, die man sich auch nicht ausgesucht hat. Manchmal wird versucht, die toxische Negativität durch ihr Gegenteil, die toxische Positivität, also den übertriebenen künstlichen Optimismus, zu bekämpfen. Oft scheitert dieser Versuch, denn es ist nicht leicht, der toxischen Negativität Einhalt zu gebieten, weil das Gehirn sich dauerhaft wie in einer Alarmposition befindet, da Schlimmes erwartet wird. Solche negativen Gedanken und Gefühle sind wie eine Autobahn, die den Fahrweg vorgibt und auf der es kaum Ausfahrten gibt. Tatsächlich sind es eingefahrene Bahnen im Gehirn. Doch es ist nicht aussichtslos. Die beste Methode, eine Ausfahrt auf der eingefahrenen Autobahn im Gehirn zu finden, ist: Gefühle wahrnehmen und annehmen, dass sie da sind; Gedanken- und Gefühlsspiralen, die einen immer tiefer hinunterziehen, erkennen und sich immer wieder stopp zu sagen. Wirksamer noch als die Stopp-Übung kann es sein, ein Mantra oder kurzes Gebet zu wiederholen und sich ganz darauf zu konzentrieren.

Man kann auch eine distanzierte Beobachterrolle diesen Gedanken und Gefühlen gegenüber einnehmen: Wahrnehmen, was man fühlt, wahrnehmen, dass man wieder einmal das Schlimmste befürchtet und sich dann davon distanzieren. Dabei sollte man sich nicht selbst verurteilen, indem man sagt: „Jetzt bin ich schon wieder so negativ, jetzt habe ich schon wieder Angst“, sondern: „Da ist dieser negative Gedanke, diese Erwartung des Negativen, die Erwartung, dass etwas schlecht ausgehen wird; da ist die Angst.“ Dadurch erkenne ich, dass ich nicht meine Gedanken bin, ich trete zur Seite und schaue mir an, was in mir vorgeht.

Außerdem, wenn wir den Stress in unserem Leben reduzieren, uns nicht mehr überfordern, sondern uns öfter Gutes tun, werden weniger negative, unangenehme Gefühle, Gedanken und Erwartungen hochkommen, und wir werden öfter positive Erfahrungen machen. Und wenn bei positiven Erfahrungen sofort Gedanken kommen wie: „Na, wer weiß, wie lange diese schönen Momente andauern werden“, dann nimmt man wahr, dass man gerade wieder ins gleiche Fahrwasser geraten ist, auf die Autobahn, die immer in die gleiche Richtung führt, und die Ausfahrt kann lauten: „Ich erlaube mir, jetzt in der Gegenwart zu bleiben.“

Gerade in unserer Zeit wird auf gesellschaftlicher Ebene die toxische Negativität gefördert, obwohl es auf der anderen Seite die Ideologie des ständigen positiven Denkens gibt, die der esoterischen Szene zu eigen ist und sich kaum auf die Welt der Medien auswirkt. Die Medien versorgen uns mit düsteren Visionen und zementieren damit die Bahnen zwanghafter negativer Gedanken im Gehirn. Auch die krampfhafte Suche nach allem, was nicht politisch korrekt erscheint, sei es, dass man „Bürger*innensteig“ sagen soll und nicht mehr „schwarzfahren“ sagen darf, zeugt von einer negativen Fixierung, von toxischer Negativität, die sich als Positivität darstellt, indem sie das „Schlechte“, das überall gefunden wird, in das „Richtige“ umwandeln will. Das führt in der Bevölkerung zu zwanghaftem, ängstlichem Sprach-Verhalten und zur Einengung, die letztlich negativ ist.

Im Grunde steckt auch hinter der Denk-immer-positiv-Welle die Ablehnung alles Negativen und damit eine ähnliche, starke – negative – Tendenz zur Abwertung und Ausmerzung des Negativen. Man verkennt, dass das Negative im Leben durchaus auch eine konstruktive Kraft sein kann. Am besten sollte man Gedanken und Gefühle eher in „konstruktiv“ und „nicht-konstruktiv“ einteilen.

Bei alledem müssen wir dessen eingedenk sein, dass Gedanken und Gefühle aus einer tieferen Schicht in uns kommen und deshalb nur begrenzt steuerbar sind, denn sie wurzeln im Unbewussten.