Resilienz und das Anzapfen von Kraftquellen

„Die Flüsse trinken nicht ihr eigenes Wasser; die Bäume essen nicht ihre eigenen Früchte. Die Sonne scheint nicht für sich selbst und die Blumen verströmen ihren Duft nicht für sich. Für die anderen zu leben ist ein Gesetz der Natur… Das Leben ist gut, wenn Sie glücklich sind, aber das Leben ist noch besser, wenn die anderen Ihretwegen glücklich sind.“ (Papst Franziskus)

Jeder Mensch kommt mit einem enormen Kraftreservoir auf die Welt kommt. Ohne diese Energie könnten wir überhaupt nicht überleben. Doch oft hat es den Anschein, dass dieses Kraftreservoir stark abnimmt. Dann ist es nötig, unsere Kraftquellen aufzusuchen.

Was sind Kraftquellen, und wie wirken sie? Es gibt Kraftquellen, die von Mensch zu Mensch verschieden sind, doch die meisten Menschen würden auf die Frage: „Was ist deine Kraftquelle?“ antworten, dass die Begegnung mit Menschen und mit der Natur ihnen Kraft gibt. Einige Menschen finden außerdem Kraft in Kunst, Literatur und Musik. Diese Kraftquellen speisen uns nachhaltig, und sie sind auch nicht mit Akkus zu vergleichen. Oft wird ja gesagt: „Ich muss meine Batterien wieder aufladen“ oder: „Ich muss auftanken“. Dahinter steckt die Idee, dass der Mensch einem Apparat oder einem Auto vergleichbar wäre. Man muss sich nach dieser Vorstellung also körperlich-seelisch-geistig aufladen, bis die Energie dann irgendwann wieder am Limit ist, bis der Tank leer ist. Mit dem Menschen verhält es sich jedoch anders: Sind seine Energien völlig erschöpft, wie z. B. bei einem Burnout, dann dauert es sehr lange, bis der Mensch wieder energievoll wird, während ein leerer Autotank problemlos wieder aufgefüllt wird.

Es gibt scheinbare Kraftquellen, die einen Moment lang helfen, einen Moment lang angenehme Gefühle hervorrufen, aber uns letztlich Energie rauben. Sie sind wie Kaffee oder Süßigkeiten, die uns eine kurze Zeit aufputschen oder die Energie stärken, nur um uns dann hinterher die künstlich erzeugte Energie wieder abzuziehen. Alles, was wir suchtartig betreiben, hat diese Eigenschaft, d.h. im Moment fühlen wir uns gut, im Nachhinein umso schlechter. Und alles, was wir aus einem Gefühl der inneren Leere heraustun, um dieses Gefühl sofort loszuwerden, das kann zur Sucht führen.

Wenn wir immer wieder unsere Kraftquellen aufsuchen, steht uns immer genügend Energie zur Verfügung, und zwar nicht nur Energie für unsere Aufgaben, sondern auch genügend Energie, um schwierige Situationen gesund zu überstehen. Das nennt man „Resilienz“. Sind wir in Kontakt mit unseren Kraftquellen, dann sind wir widerstandsfähiger, belastungsfähiger, flexibler, und wir kommen auch mit dem Leidvollen im Lebens leichter zurecht. Der Begriff Resilienz hat seinen Ursprung in der Physik und beschreibt die Fähigkeit eines Körpers, nach Verformung durch äußere Kräfte seine ursprüngliche Gestalt selber wiederherzustellen.

Man kennt dieses Phänomen auch aus der Ökologie. Vor einigen Jahren verunglückte an der Pazifikküste Nordamerikas ein Öltanker und die Strände wurden mit einem giftigen Ölfilm verschmutzt. Naturschützer und Behörden kämpften mit allen möglichen technischen und wohl auch chemischen Mitteln um die Rettung dieser einzigartigen Landschaft. Einige Zeit später untersuchten Forscher die Strände, an denen Menschen für die Genesung der Landschaft kämpften, mit denen, wo die Natur auf sich allein gestellt war. Zum Erstaunen aller stellte man fest, dass die Selbstheilungskräfte der Natur deutlich wirksamer waren. Resilienz ist das Phänomen positiver Anpassung angesichts widriger Ereignisse nach einer gewaltsamen Störung von außen. Sie erfolgt in der Regel aus eigener Kraft.

Dieses Forschungsergebnis sollte natürlich nicht dahingehend verstanden werden, dass man bedenkenlos der Umwelt weiter Schaden zufügen kann, weil man mit der Selbstheilungskraft der Erde rechnen kann. Die Zerstörung kann, wie wir überall sehen, so weit getrieben werden, dass es fraglich ist, ob die Selbstheilungskräfte der Erde mit diesem Ausmaß zurechtkommen.

Aber übertragen wir das, was in der Natur geschieht, auf den Menschen: Auch im Menschen gibt es Kräfte, die seiner Verformung entgegenwirken. Ja, unsere Gesellschaft verformt den Menschen. Jeder Mensch bringt aber glücklicherweise Selbstheilungskräfte mit, er hat eine innere Stärke, und es ist sehr geheimnisvoll und rätselhaft, woher diese Stärke rührt. Das ist nichts, was in einer Art Akku oder Treibstoff in den Menschen hineinkommt. Die Stärke ist einfach da, doch sie darf nicht so weit untergraben werden in der Weise, wie das Menschen schon seit langem mit der Erde machen. Ich glaube, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Ausbeutung der Erde und der Ausbeutung des Menschen.

Die innere Kraft des Menschen kann und muss immer wieder gespeist werden. Diese Kraftquellen können Meditation sein, Entspannung, Musik, die Natur, Tiere, aufbauende Beziehungen, eine erfüllende Arbeit, Kreativität, Spiritualität. Und je stärker all diese Tätigkeiten oder Beziehungen von Achtsamkeit geprägt sind, desto kraftvoller und heilsamer wirken sie. Körperliche Kraftquellen sind Schlaf, Bewegung, gesunde Ernährung, das Einlegen von Erholungspausen, was wiederum einhergeht mit der achtsamen Wahrnehmung dessen, was dem Körper wirklich guttut, und das bedeutet auch, dass die körperlichen Grenzen beachtet werden.

Wenn wir uns durch unsere Kraftquellen nähren lassen, werden wir resilienter, also widerstandsfähiger und belastbarer. Resilienz bedeutet nicht ein andauerndes Wohlgefühl und auch nicht Verleugnung, Bagatellisierung und Beschönigung von Problemen. Es gibt ja spirituelle Strömungen, die von einem abverlangen, dass man alles positiv interpretiert, das einem im Leben widerfährt oder dass man nichts bewerten dürfe, schon gar nicht negativ bewerten dürfe. Auf diese Weise kann man ganz leicht Menschen missbrauchen. Man mutet anderen Menschen alles Mögliche zu und empfiehlt ihnen dann, nicht zu werten oder aber das Unzumutbare positiv zu sehen, z. B. weil es angeblich der eigenen Entwicklung dienen würde.

Die Förderung der inneren Stärke bzw. Resilienz soll nicht dazu benutzt werden, dass man unmenschliche Arbeitsbedingungen ertragen lernt, dass man also stark genug wird, um mit Ausbeutung und Ungerechtigkeit klarzukommen. Diese Bedingungen müssen beim Namen genannt werden, möglicherweise sind die Arbeitsbedingungen kalt, abweisend und überfordernd. Dann schwinden die Freude an der Arbeit, die Begeisterung und Einsatzbereitschaft, und es schwindet die Kraft. Hier geht es darum, nach den Ursachen und Änderungsmöglichkeiten zu suchen.

Die Gesellschaft macht uns das Leben alles andere als leicht. Doch selbst wenn es in der Gesellschaft menschlicher zuginge: Das Leben an sich bringt uns wie wir alle immer wieder erfahren, Leiden, Verletzungen und belastende und sogar krankmachende Situationen.

Wir werden alle mehr oder weniger traumatisiert. Wir alle tragen irgendeine Wunde in uns oder sogar viele Wunden. Die Forschung zu gehobenen Emotionen wie Freude, Hoffnung, Glück usw. hat gezeigt, dass diese Emotionen flüchtiger sind als die belastenden wie Traurigkeit, Verzweiflung, Angst usw. Das kennen wir ja aus eigener Erfahrung. Je traumatisierter man ist, desto kürzer sind die Augenblicke der gehobenen, angenehmen Gefühle und desto länger ist der Zeitraum, in denen die belastenden Gefühle dominieren.

Wir können zwar keine aufbauenden Gefühle erzwingen, aber ganz ausgeliefert sind wir den länger anhaltenden herunterziehenden Gefühlen auch wieder nicht.  Wir können den herunterziehenden Gefühlen vor allem Dankbarkeit entgegensetzen, die am meisten hilft, um zufrieden zu sein. Dann schiebt sich dieses aufbauende Gefühl in den Vordergrund. Wir können nicht im selben Moment zwei sich widersprechende Emotionen fühlen, wir können nicht gleichzeitig deprimiert und dankbar sein. Dankbarkeit kann in die Richtung gepflegt werden, dass wir uns immer wieder dessen bewusstwerden, wieviel wir anderen verdanken. Allein schon, indem wir Nahrung zu uns nehmen, können wir den unbekannten Menschen dankbar sein, die das Gemüse gesät, geerntet und geliefert haben. Wir können für den Sonnenschein und Regen dankbar sein, wodurch die Saat wachsen konnte.

Was auch helfen kann, in die eigene Kraft zu kommen, ist, sich immer wieder an Momente zu erinnern, wo einem das eine oder andere bereits möglich war. Dabei stellt man sich so intensiv wie möglich diese Situation vor. So gewinnt man mehr Vertrauen in sich selbst. Man spürt dann, dass diese Fähigkeit ja bereits in einem selbst vorhanden ist, und man stellt sich vor, wie man diese Fähigkeit wieder nutzen könnte. Unser Gehirn scheint durch Wiederholung zu lernen.

Diese Fähigkeit kann z. B. das Grenzensetzen sein, vor allem für Menschen, denen es schwerfällt, „nein“ zu sagen. Dann erinnert man sich daran, wie man in einer bestimmten Situation das Grenzensetzen gemeistert hat, wie sich das angefühlt hat, und man stellt sich vor, dass es sich in einer zukünftigen Situation ähnlich anfühlen könnte. Grenzen setzen zu können ist sehr wichtig, denn indem wir Dinge tun, die wir eigentlich gar nicht tun wollen bzw. die wir nur deshalb tun, weil es von uns erwartet wird, nimmt unsere Kraft enorm ab.

Ein anderes Beispiel: Jemand hat das Gefühl, bei Unterhaltungen nichts Besonderes beitragen zu können. Eine Frau war mit einem Mann verheiratet, der immer die Unterhaltung bestritt, wenn Besuch kam. Das, was seine Frau sagte, wertete er ab, sowohl vor anderen wie auch, wenn sie alleine zuhause waren. Schließlich bekam die Frau das Gefühl, nichts Interessantes zu einer Unterhaltung beitragen zu können und verstummte. Ihr könnte man raten: „Erinnere dich an Momente, wo du dich selbstbewusst ins Gespräch eingebracht hast und selbst, wenn das schon länger her ist. Dann frage dich: ‚Wie war denn die Situation? Wie war da meine Stimmung? Wie fühlte ich mich da?‘“ Und was einmal möglich war, wird auch in Zukunft möglich sein.

Wir tragen alle viel mehr Potential in uns als wir normalerweise glauben. Und im Grunde wissen wir alle auch, womit wir uns Gutes tun können und was uns Kraft gibt und was uns nicht guttut. Wir haben in uns nicht nur Stärke und Selbstheilungskräfte, sondern auch eine innere Weisheit.

Auch die Suche danach, welchen Sinn unser Leben und auch das Leiden hat, kann die Resilienz fördern. Viktor Frankl meinte, wenn das Leben einen Sinn habe, gelte dies unter allen Umständen, unabhängig von der Dauer des Lebens und unabhängig davon, wie das Leben war und ist. Es fördert die seelische Kraft, wenn wir eine Belastung als Herausforderung interpretieren, der irgendeine Sinnhaftigkeit innewohnt. Nietzsche sagte: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“

Viktor Frankl zitierte eine seiner Patientinnen, die sagte: „Wer da meint, ein Menschenleben müsse ein Schreiten von Erfolg zu Erfolg sein, der gleicht wohl einem Narren, der kopfschüttelnd an einer Baustelle steht und sich wundert, dass da in die Tiefe gegraben wird, da doch ein Dom entstehen soll.“

In einem Dom, der tiefe Fundamente haben muss, haben viele Menschen Platz. Und darum geht es! Nicht nur sich selbst sehen, sondern über sich selbst hinausgehen, das große Ganze im Blick haben! Viktor Frankl hat das KZ ohne großen seelischen Schaden überlebt, weil er in dieser schrecklichen Zeit anderen geholfen hatte.

Auf der Suche nach den Kraftquellen mögen wir viele schöne Aufgaben und Beschäftigungen finden, aber wenn sich diese Aufgaben nur auf uns selbst beziehen, werden sie bald schal und leer werden und keine Kraftquelle mehr sein. Nur für uns selbst da sein oder nur für andere da sein – das sind zwei ungesunde Extreme. Das Glück suchen, indem man nur sich selber Gutes tut, führt in eine Sackgasse: Das Warum des Lebens finden wir viel eher, indem wir das Glück der anderen im Blick haben, in dem Sinne wie Papst Franziskus sagte:

„Die Flüsse trinken nicht ihr eigenes Wasser; die Bäume essen nicht ihre eigenen Früchte. Die Sonne scheint nicht für sich selbst und die Blumen verströmen ihren Duft nicht für sich. Für die anderen zu leben ist ein Gesetz der Natur… Das Leben ist gut, wenn Sie glücklich sind, aber das Leben ist noch besser, wenn die anderen Ihretwegen glücklich sind.“