„Worin liegt der Unterschied zwischen Beobachten und Schauen? Schauen ist selbstlos, Beobachten sucht etwas für sich. Beobachtet man, will man wissen und Information besitzen. Man will etwas erreichen, z. B. Erkenntnis. Das bloße Schauen dagegen will nichts erreichen. Vom Schauen kommt Liebe zum Angeschauten… Vom Anschauen kommt Ruhe. Die Ruhe bringt Toleranz.“ (Franz Jalics)
Das, was wir hören, spricht das Gefühl stärker an als das, was wir sehen. Letzteres spricht stärker den Verstand an. Und doch gibt es unterschiedliche Qualitäten des Schauens, wie Franz Jalics im obigen Zitat andeutet.
Einmal machte ich im Kloster eine Wahrnehmungsübung mit Muscheln. Eine Teilnehmerin sagte am Schluss: „Als wir mit dieser Übung begannen, dachte ich mir: Na ja, das habe ich ja schon mal gemacht. Die Übung kenne ich. Aber dann war das eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich sah die Vollkommenheit der Muschel und verliebte mich regelrecht in sie. Immer wieder während des Tages ist mir das Bild der Muschel aufgetaucht.“
„Vom Schauen kommt Liebe zum Angeschauten.“ Vom Beobachten kommt keine Liebe. Wenn wir beobachten, wollen wir kontrollieren. Es gibt Menschen, die sich selber sehr stark beobachten, und das bedeutet: Sie haben eine (zu) starke Selbstkontrolle. Im Beobachten gehen wir auf Distanz. Wir sind im Kopf.
Wenn wir dagegen in unserer Mitte verankert sind, dann wird auch unser Schauen selbstloser sein, wir schauen dann nicht mit dem Adlerblick. Das Gegenteil vom Adlerblick ist der weiche, meditative Blick. Beatrice Grimm schreibt über diesen Blick: „Es ist nicht dieses aktive ‚Alleserhaschenwollen‘ oder das anstrengende ‚Janichtsverpassen‘. Es ist ein Nichtwerten, ein Sichwundern und Staunen.“
„Schauen ist selbstlos, Beobachten sucht etwas für sich… Man will etwas erreichen, z. B. Erkenntnis. Das bloße Schauen dagegen will nichts erreichen“, sagt Franz Jalics. Wenn wir uns in der Meditation beobachten, so in etwa: „War ich jetzt gedankenfrei? Wie lange war das wohl? Wie viele Sekunden? Was ist eigentlich normal? Wie ist das bei den anderen? Wie viele Sekunden oder Minuten müsste ich denn nach ein paar Wochen oder Monaten regelmäßiger Meditationsübung geschafft haben?“ dann sind wir nicht selbstlos, wir wollen etwas erreichen wie ein Leistungssportler. Wenn wir uns aber mit einem wohlwollenden Blick, nicht mit dem Adlerblick anschauen, dann merken wir vielleicht, dass wir ziemlich zerstreut waren, aber es macht nichts. Wir brauchen ja nichts erreichen. Wir nehmen uns an. Wir bemühen uns zwar, aber wir strengen uns nicht an, wir gehen also nicht streng und abwertend mit uns um.
Wie wir mit uns umgehen, so gehen wir meistens auch mit anderen um. Haben wir anderen gegenüber eher einen wohlwollenden, liebevollen Blick oder einen kritischen? Eine Kindergärtnerin, die eine Ausbildung zur Waldorferzieherin machte, erzählte, dass sie Schwierigkeiten mit einem Kind in der Gruppe hatte, das oft unangenehm auffiel. Da wurde ihr von der Ausbilderin der Rat gegeben: „Schau dieses Kind immer wieder an, jedes Detail. Wenn es ins Spiel versunken ist, so dass es nicht merkt, dass du es anschaust, betrachte sein Haar, seine Augenbrauen, die Beschaffenheit der Haut usw. Wenn du das immer wieder tust, wirst du das Kind lieben lernen.“ Vom Anschauen kommt Liebe zum Angeschauten. Vom Wahrnehmen kommt Liebe zum Wahrgenommenen.
Ein Mann, der in einem meiner Kurse im Kloster am Spaziergang mit Wahrnehmungsübungen teilnahm, weigerte sich, die Bäume zu befühlen und zu umfassen. Er sagte darüber im Erfahrungsaustausch am Ende des Kurses: „Ich bin Landschaftsarchitekt und war mal Gärtner, ich weiß, wie sich Bäume anfühlen.“ Es geht ja nicht darum, etwas Neues zu entdecken oder eine Information zu bekommen, sondern es geht um das Fühlen, und das ist auf eine andere Weise immer neu, es ist nie langweilig. Wie gesagt, ist uns nie langweilig, wenn wir ganz in der Wahrnehmung verweilen.
Wenn wir etwas berühren, betasten, dann sehen wir es auch deutlicher. Wir sehen jedes Detail, das uns vielleicht entgangen wäre, wenn wir den Gegenstand nur angeschaut hätten.
Der letzte Satz des Zitats lautete: „Vom Anschauen kommt Ruhe. Die Ruhe bringt Toleranz.“ Vom Anschauen kommt Gedankenruhe. Wenn unsere Gedanken verebben, wird die Stille aus einer tieferen Schicht unseres Wesens nach oben kommen. Auch unsere Urteile ruhen dann. Deswegen werden wir tolerant – in einem umfassenden Sinn des Wortes. Wir können die Dinge und die Menschen so sein lassen, wie sie nun mal sind.
Empfehlung für den Alltag – Wahrnehmung einer Muschel
Nimm eine Muschel in die Hand. Wenn du keine hast, nimm einen Stein, ein Blatt oder irgendeinen kleinen Gegenstand.
- Halte die Muschel (oder den Stein, das Blatt etc.) in der hohlen Hand und spüre ihr/sein Gewicht.
- Schaue dir die Muschel genau an. Betrachte alle Seiten.
- Schließe die Augen und betaste die Muschel von allen Seiten.
- Öffne die Augen und betaste sie. (Vielleicht fallen dir jetzt Details auf, die du vorher beim Betrachten ohne Betasten gar nicht gemerkt hast.)
- Schließe wieder die Augen und lege die Muschel an die Wange. Wie fühlt sie sich an der Wange an?
- Führe die Muschel an das Ohr. Lausche in die Öffnung der Muschel. Wenn Du einen anderen Gegenstand als eine Muschel hast, halte ihn trotzdem an das Ohr und lausche. Alle Gegenstände sind still. Sie strahlen Stille aus. Lausche auf diese Stille des Gegenstandes.
- Führe dann die Muschel mit geöffneten oder geschlossenen Augen zur Nase und rieche daran.
- Halte die Muschel in der hohlen Hand und schaue sie nochmal an.