Wahrnehmung, Denken und Handeln

Wenn es kein Hindernis für das Auge gibt, schauen wir. Wenn es kein Hindernis für das Ohr gibt, hören wir. Wenn es kein Hindernis für den Kopf gibt, werden wir weise. Wenn es kein Hindernis für das Herz gibt, werden wir froh.                                 (Chinesischer Spruch)

Eine ganz wesentliche Übung im meditativen Leben ist: weniger im Kopf sein und dafür stärker und häufiger bei der Wahrnehmung verweilen. Menschliches Verhalten setzt zunächst einmal Wahrnehmung voraus, dann folgt das Denken und schließlich das Handeln. Am Anfang steht immer die Wahrnehmung. Da gibt es die sinnliche Wahrnehmung: Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken. Und es gibt die geistige Wahrnehmung von Form von Bewusstwerden.

Auf die Wahrnehmung folgt das Denken. Es ist unsere erste Reaktion auf die Wahrgenommene. Wir reflektieren, vergleichen, analysieren, interpretieren, planen und dadurch ordnen wir das Wahrgenommene ein. Ein Beispiel: Ich sitze im Garten, die Sonne scheint, ich genieße die spätsommerliche Atmosphäre, schaue den Vögeln zu, die in den Bäumen sitzen und lausche ihrem Zwitschern. Wer das wenigstens ein paar Minuten tun kann, ohne gleich ins Denken abzugleiten, ist zu beglückwünschen.

Aber wie oft geschieht es, dass diese Wahrnehmungen nur eine Sekunde dauert, dann kommen Gedanken wie: „Ach, was für ein Vogel ist denn das? Oh, hier gibt es ja jede Menge Unkraut. Das muss ich ausreißen.“ Man ist also von der kurzen Wahrnehmung gleich ins Denken gekommen. Würde man aber länger bei der Wahrnehmung bleiben, dann würde das so aussehen: Man verweilt beim Anblick, bei den Tönen und Geräuschen, die man hört, man nimmt den Geruch der frischen Luft wahr.

Kinder verharren länger in der Wahrnehmung. Und weil sie stärker in der Wahrnehmung leben, sind sie auch die glücklicheren Menschen, es sei denn die Erwachsenen machen ihnen das Leben schwer.

Zunächst ist da also die Wahrnehmung, die bei uns Erwachsenen, besonders in der hoch zivilisierten Welt sehr kurz ausfällt, dann folgt das Denken und schließlich das Tun. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: wir fangen an, das Unkraut zu jäten. Damit haben wir uns kostbarer Minuten beraubt. Das Unkraut hätten wir auch später jäten können.

Damit sollen nicht Denken und Handeln abgewertet werden. Wir sind glücklicherweise denkende Wesen und besitzen die Fähigkeit, etwas Konstruktives für die Welt zu tun. Wenn wir jedoch länger bei der Wahrnehmung bleiben, wird unser Denken sogar klarer und geordneter werden und als Folge davon wird unser Handeln reflektierter sein. Der Wahrnehmung sollte also mehr Raum gegeben werden.

Warum ist unsere Welt so hektisch? Weil wir so kurz bei der Wahrnehmung bleiben und gleich ins Denken, Beurteilen und Planen fallen, und dann ständig etwas verändern wollen. Und je hektischer wir werden, desto unruhiger wird unser Denken und desto kürzer wird unsere Wahrnehmung sein. Dann werden wir kaum noch in der Gegenwart leben, sondern immer dem jetzigen Augenblick vorauseilen. Wenn wir aber das hektische Tun ablegen, Pausen im Denken machen und öfter und länger in der Wahrnehmung bleiben, dann leben wir im jetzigen Augenblick.

Wenn wir uns an Momente erinnern, bei denen wir etwas genossen haben oder in denen wir glücklich waren, dann stellen wir fest, dass wir da ganz gegenwärtig waren. Natürlich gibt es auch das Glück der Vorfreude, man ist glücklich bei der gedanklichen Vorstellung von etwas Zukünftigem. Aber normalerweise sind wir glücklich, weil wir in der Gegenwart versunken sind. Weg und Ziel fließen zusammen. Alle Absichten und Ziele, die sich ja immer auf die Zukunft beziehen, ruhen.

Wenn wir bei der Wahrnehmung bleiben, können Glücksgefühle in uns hochkommen. Wir gelangen in den Flow. Tiere und Pflanzen leben überwiegend in der Wahrnehmung. Es wäre eine Überlegung wert, ob nicht Tiere, die frei leben dürfen, glücklicher sind als wir Menschen. Wir wissen es nicht. Verweilt der Mensch länger bei der Wahrnehmung, ist er tatsächlich glücklicher. In diesem Verweilen in der Gegenwart erfahren wir auch keine Langeweile, und wir ermüden nicht. Denken und Tun ermüden, nicht aber die reine Wahrnehmung. Wahrnehmung erfrischen uns und geben uns neue Kraft.

Am Anfang habe ich einen chinesischen Spruch zitiert: „Wenn es kein Hindernis für das Auge gibt, schauen wir“ lautete der erste Satz. Was sind Hindernisse für das Auge? Es können krankheitsbedingte, körperliche Hindernisse sein, aber da gibt es auch das Hindernis des zu vielen Denkens, wenn wir also kaum wahrnehmen und gleich über das Geschaute nachdenken, dann sehen wir es vielleicht noch, d. h. wir nehmen es hintergründig noch wahr. Wenn wir es aber schauen, dann versinken wir im Angeschauten.

„Wenn es kein Hindernis für das Ohr gibt, hören wir“, lautete der zweite Satz. Auch hier hindern uns Gedanken immer wieder. Wir hören nicht die Naturgeräusche, wir hören dem Mitmenschen nicht wirklich zu, weil wir in unseren eigenen Gedanken verfangen sind. Wenn sich die Gedanken jedoch nicht in den Weg stellen, tauchen wir ein in das Gehörte. Diese Sätze vom Schauen und Hören könnten wir natürlich noch ausweiten auf die anderen drei Sinne des Riechens, Schmeckens und Tastens.

Aber gehen wir zum dritten Satz: „Wenn es kein Hindernis für den Kopf gibt, werden wir weise.“ Was ist ein Hindernis für den Kopf? Das ständige Beurteilen und Bewerten. Wir können ohne Beurteilungen und Bewertungen zwar nicht leben, sie sind ja auch Orientierungen im Alltag, aber wir können Urteile und Bewertungen, vor allem negative Bewertungen, reduzieren und so klarer denken.

Und der letzte Satz lautet: „Wenn es kein Hindernis für das Herz gibt, werden wir froh.“ Ein Haupthindernis scheint mir die Angst zu sein. Auch in dem ständigen Sich-selber-vorauseilen liegt Angst. Hinter Hyperaktivität steckt Angst. Unser Verhalten wird immer von einer der beiden Impulse getragen: entweder von Angst oder von Liebe. Angst schließt zu, Liebe öffnet. Angst behindert, Liebe befreit. Wenn wir etwas aus Liebe zu einer Sache, einer Idee oder aus Liebe zu einem Menschen tun, dann werden wir froh. Deshalb möchte ich den Satz noch erweitern: „Wenn es kein Hindernis für das Herz gibt, werden wir froh und liebevoll.“ Denn Freude und Liebe gehören zusammen. In der Tiefe unserer oftmals zugeschütteten Herzen befinden sich Freude und Liebe. Beide sind unsere ursprüngliche Natur, unser wahres Wesen. Wenn wir uns verstärkt der Wahrnehmung zuwenden, bekommen wir einen leichteren Zugang zu unserem wirklichen Wesen.

Empfehlung für den Alltag – Spaziergang mit Wahrnehmungsübungen

Einige Minuten lang achtsam schauen, nicht nur nach vorn, sondern auch immer wieder mal nach rechts und links, unten und oben schauen, möglichst ohne Einordnung in Schön und Hässlich: Alles anschauen, was sich den Augen gerade darbietet, seien es Bäume und Blumen oder aber Autos und Asphalt.

Einige Minuten vor allem hören: die eigenen Schritte, Naturgeräusche, Auto- und Flugzeuggeräusche usw. Die visuellen Reize lenken einen dabei oft ab, aber trotzdem immer wieder zu den Geräuschen und Tönen zurückkehren.

Einige Minuten fühlen: die Luft auf der Haut fühlen, den Bodenkontakt beim Gehen fühlen, Dinge anfassen und befühlen: Blätter, Erde, Moos, Baumrinden usw.

Einige Minuten riechen: Erde und Blätter in die Hand nehmen und daran riechen, die Luft riechen, die Geruchlosigkeit riechen.

Beim Essen: die Speise wirklich schmecken.