Im Buch „Geborgen im Leben“, das Elisabeth Kübler-Ross zusammen mit David Kessler schrieb, erzählt David Kessler von einem Aufenthalt in Ägypten, bei dem er mit einem Freund einen alten Tempel besuchen wollte, welcher der Heilung gewidmet war. Unter den Touristen, die den Tempel besuchten, gab es einige, die tatsächlich Heilung suchten, andere wollten den Tempel einfach nur besichtigen. David Kessler erfuhr, dass sich sein Freund eine Stunde verspäten würde, und er ärgerte sich, so lange auf ihn warten zu müssen, zumal es sehr heiß war. Dann kam ihm eine Idee. Er dachte: Ich bete für all diese Menschen, die an mir vorübergehen. Und die Stunde verging ganz schnell.
Für andere beten oder andere segnen sind ganz ähnliche heilungsfördernde Handlungen. Wir könnten das, was David Kessler in Ägypten tat, auf viele Situationen, mit denen der Alltag uns konfrontiert, übertragen: an der Bushaltestelle warten, im Warteraum eines Arztes sitzen, in der Warteschlang vor der Supermarktkasse stehen usw.
Viele Menschen glauben, dass nur Geistliche segnen können oder dürfen. Dem ist aber nicht so, und es war noch nie so. Früher war es in unserem Kulturkreis üblich, dass Eltern ihre Kinder segneten, bevor sie das Haus verließen oder schlafen gingen. In vielen Kulturen segnen alte Menschen junge Menschen. Junge Menschen erbitten den Segen der Eltern, Großeltern oder anderer älterer Verwandter. In früheren Zeiten wurde das Essen gesegnet: Die Mutter zeichnete z. B. mit dem Messer ein Kreuzzeichen auf das Brot, bevor sie es anschnitt. Das Segnen gibt es in allen Religionen, wobei sogar die Segensgebärden zum Teil identisch sind, wie z. B. das Handauflegen.
Früher und auch heute wurde und wird der Segen überwiegend von einer religiösen Autorität erteilt, obwohl doch jeder und jede von uns schon immer segnen kann.
Was bedeutet eigentlich segnen? Segnen bedeutet, dem anderen Gutes, Heilung und Glück wünschen. Wenn uns jemand zuruft: „Alles Gute!“ oder „Gute Besserung“, und selbst wenn es von Herzen kommt und es nicht nur aus Höflichkeit so daher gesagt wird, kämen wir doch nicht auf die Idee, dies einen Segen zu nennen, ganz zu Recht, denn Segen ist mehr als nur Gutes wünschen. Laut Wörterbuch bedeutet Segnen: „Personen, Tieren oder Dingen Anteil an göttlicher Kraft geben.“ Es heißt da: „Ziel des Segnens ist die Förderung von Glück und Gedeihen und die Zusicherung von Schutz und Bewahrung. Oft ist der Segen mit einer Gebärde verbunden.“
Im Segnen möchten wir einen heilsamen Strom weitergeben, einen Strom, der nicht unserem kleinen Ich entspringt. Wenn wir glauben würden, dass ein heilsamer Strom aus unserem kleinen Ich auf andere Menschen überspringen könnte, wäre das wohl ein Anzeichen von Selbstüberhöhung. Wenn wir aber glauben, dass der heilsame Strom von woanders herkommt, von einer höheren Kraft, vom tieferem Selbst, dann wird das kleine Ich als ein Kanal verstanden, der heilsame Kraft an andere weiterleitet.
Wir alle können also jeden und alles segnen: Menschen, Tiere, Pflanzen und Dinge. Besonders wenn wir jemandem nicht helfen können, wenn wir das Leid eines Menschen, Tieres oder einer Pflanze nicht lindern können, bleibt uns doch noch etwas zu tun, nämlich zu segnen. Wir können das Essen oder ein Haus können segnen. Wir können den Tag am Abend segnen, oder sogar schon am Morgen können wir den Tag segnen, ohne zu wissen, wie er verlaufen wird. Wir können den Tag auch vor dem Abend loben.
Das Wort Segen wird auch in dem Sinne verwendet, dass jemand oder etwas ein Segen ist. Man sagt z. B.: „Dieses Kind ist ein Segen für die Familie.“ Oder jemand ist mit bestimmten geistigen oder materiellen Gaben gesegnet. Aus einer schwierigen Lage kann ein Segen werden. Segen bedeutet hier ein geistiges Geschenk. Wir sind gesegnet mit den Menschen, die uns nahestehen, mit den Dingen, die uns gehören, wir sind gesegnet mit den Fähigkeiten, die uns in die Wiege gelegt wurden. Wir können segnen, weil wir eingebettet sind in etwas Geheimnisvolles, aus dem all der Segen kommt.
Frage dich: Habe ich mich schon einmal gesegnet gefühlt?
Gelegenheiten zum Segnen gibt es zahllose: beim Warten an der Bushaltestelle, im Wartezimmer, im Stau auf der Autobahn usw. Auf einer Zugfahrt können wir die Mitreisenden segnen, wir können die Felder segnen, an denen der Zug vorbeifährt und die Kühe, die darauf grasen. Segnen braucht keine extra Zeit. Oder wir sehen in den Nachrichten, wie Menschen nach Naturkatastrophen alles verloren haben und über ihre nächsten Angehörigen trauern; wir sehen im Internet, was Tieren angetan wird, und wir können sogleich segnen. Manchmal können wir in solchen Fällen Geld spenden, aber nicht immer ist das möglich. Und das Leid, nahe Angehörige verloren zu haben, kann durch kein Geld der Welt gelindert werden.
Segnen können wir immer. Es kostet keine Zeit und kein Geld, es verbraucht keine Energie, es schafft Energie. Die Wirkungen des Segnens sind nicht sichtbar. Sie heben das Leid jedoch nicht auf. Aber wir können davon ausgehen, dass kein einziger segensreicher Gedanke auf der Welt verloren geht, übrigens geht leider auch kein negativer Gedanke verloren. Wenn wir segnen, wirkt das auch auf uns zurück. Ein indisches Sprichwort sagt: „Das Lächeln, das du aussendest, kehrt zu dir zurück.“ Wir können diesen Satz ein wenig umwandeln und sagen: „Der Segen, den du aussendest, kehrt zu dir zurück.“