„Höre, so wird deine Seele leben.“ Jesaja 55,3
„Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ Lorenz Oken
Wir modernen Menschen sind fast alle in erster Linie Augenmenschen. Der Musiker Joachim-Ernst Berendt sagte, dass wir unter der Diktatur des Visuellen, des Sichtbaren leben. Das Hören ist ganz unterentwickelt. Musiker sind da eine Ausnahme. Dass wir so vom Sichtbaren eingenommen werden, wird noch durch Fernsehen, Computer und visuelle Reizüberflutung verstärkt.
In unserer Zeit und unserer Zivilisation sind wir überwiegend Augenmenschen, weil wir kopfbetont sind oder umgekehrt: Wir sind kopfbetont, weil wir Augenmenschen sind. Die Betonung des Verstandesmäßigen ordnet man dem Männlichen zu, das Gefühlhafte mehr dem Weiblichen (was nicht bedeutet, dass Männer weniger Gefühle hätten als Frauen). Die Chinesen ordnen das Auge dem Yang-Prinzip zu, d. h. dem männlichen Prinzip, das Ohr ordnen sie dem Yin-Prinzip zu, d. h. dem Weiblichen. Über das Hören bekommen wir einen stärkeren Zugang zu unseren Gefühlen und zu unserem weiblichen Aspekt als über das Sehen. Klänge wirklich wahrnehmen bedeutet, empfangen können, die Seele öffnen.
Blinde Menschen haben oft ein reiches Gefühlsleben, taubstumme Menschen sind leider durch ihre Behinderung auch gefühlsmäßig eingeschränkt. Jacques Lusseyran, der selbst blind war, beschrieb in seinem Buch „Das wieder gefundene Licht“, wie er in seinem Inneren immer ein Licht wahrnahm und wie er Menschen und Dinge erspürte. Er nahm wahr, dass die Gegenstände, die er anfasste, vibrierten. Wir bedauern Menschen, die blind sind, und das ist sicherlich nicht ganz verkehrt, aber auch Blinde könnten uns Sehende bedauern. Blinde Menschen sind vor allem fühlende und hörende Menschen; alle Sinne außer dem Sehsinn sind bei ihnen viel ausgeprägter, sie sind „feinsinniger“, gesammelter als wir sehende Menschen.
Ich erinnere mich an eine Vorlesung im Fach Behindertenpädagogik, bei der der Dozent uns fragte: „Wer hat Ihrer Meinung nach ein härteres Schicksal: blinde oder taube bzw. taubstumme Menschen?“ Einstimmig antworteten wir Studenten, dass natürlich blinde Menschen das härtere Schicksal hätten, aber der Dozent verneinte: Für taube und taubstumme Menschen gäbe es ganz starke Einschränkungen in der Kommunikation und sie könnten leicht vereinsamen, während das bei blinden Menschen keineswegs der Fall ist und bei ihnen die anderen Sinne sehr ausgeprägt sind.
Der Musiker Joachim-Ernst Berendt hat sehr viel über das Hören geforscht und geschrieben. Er spricht vom Tempel im Ohr. Wenn wir wirklich hören, spüren wir, dass wir lebendig sind – viel stärker als wenn wir etwas Wunderschönes sehen. Mir hat sich das Hören bei einem Spaziergang in einer Seminargruppe mit Anselm Grün ganz neu erschlossen, und ich habe danach geschrieben: „Wenn ich schaue, erkenne ich; wenn ich höre, weiß ich, dass ich lebe… Im Schauen bietet sich mir ständig eine Fülle dar; im Hören eine Kargheit. Im Warten auf den nächsten Ton, in den leisen Tönen, in der Kargheit zeigt sich, wie zurückhaltend und dezent Gott sein kann und wie bescheiden.“
Obwohl ich Malerin bin, vermittelt mir das Hören meistens tiefere Erfahrungen als das Schauen. Einen Spaziergang genieße ich dann am intensivsten, wenn ich dabei vor allem eine Hörende und weniger eine Schauende bin. Anselm Grün sagt, dass Hören in die Geborgenheit führt.
Wirklich hören kann man aber erst, wenn man sich mit der Stille angefreundet hat, wenn man oft auf die die Stille gehört hat.
Wenn wir loslassen und Geräusche nicht bewerten, wird fast jedes Geräusch schön. Dann unterscheidet man gar nicht mehr zwischen schönen und nicht-schönen Geräuschen. Alles kann zum Klang werden. Das Geräusch macht auf die Stille aufmerksam. Es kommt aus der Stille und geht wieder dorthin. Deshalb ist das Geräusch wie ein Zeigefinger, der auf die Stille zeigt. Wenn man aufmerksam und entspannt auch auf technische Geräusche hört, die z. B. Geräusche einer Säge in der Ferne, eines Flugzeugs, eines Rasenmähers, wird man sie nicht als hässlich empfinden, sie können sogar als angenehm empfunden werden. Und wenn dann das Geräusch aufhört, kann die Stille noch intensiver wahrgenommen werden.
Wenn man einen besseren Zugang zum Hören bekommen möchte, empfiehlt sich die Übung, täglich immer wieder versuchen, nur zu hören und das Sehen zeitweise an zweite Stelle zu setzen. Das Sehen schiebt sich natürlich immer wieder in den Vordergrund, es sei denn, wir halten die Augen geschlossen. Aber dann, auf einem Spaziergang z. B., wenn wir das Hören wieder vergessen haben, kehren wir bewusst wieder zurück zum Hören. Das kann auf einem Spaziergang durch die Natur sein; diese Übung kann aber auch an einer Haltestelle stattfinden, in der Warteschlange vor einer Supermarktkasse, in der Küche, im Büro, wo auch immer. Einfach ein paar Minuten hören ohne sich zu sagen: Das ist ein schöner Klang, das ist ein hässliches Geräusch. Das bedeutet: hören ohne zu bewerten, einfach nur Ohr sein.
Dann wird man toleranter gegenüber Geräuschen sein. Man wird aber auch die Stille mehr lieben lernen. Man lernt dann, auf die Stille zu hören, der Stille zuzuhören.
Wir leben in einer extrem lauten Zeit. Viele Menschen suchen den Lärm und haben Angst vor der Stille. Ist Stille um sie herum, müssen sie sofort Musik anmachen oder den Fernseher einschalten. Die Stille konfrontiert uns mit uns selbst. Deshalb macht die Stille vielen Menschen Angst. Die Pausen in Gesprächen werden oft als peinlich empfunden. Aber die Angst, bei anderen Menschen durch Stille peinliche Gefühle und Angst hervorzurufen, bedeutet, dass man selber Angst vor der Angst hat, die in der Stille entstehen kann. Habe ich Angst, dass dem anderen die Stille peinlich ist, so ist sie mir in Wirklichkeit selber peinlich.
Es ist so wichtig, sich die Stille zur vertrauten Freundin zu machen, sie lieben zu lernen. Einem Freund, einer Freundin wird man gerne zuhören wollen, und so wird man auch der Stille gerne zuhören, wenn sie zur Freundin wird. Sie kann trösten, sie gibt Kraft, sie lehrt uns viel über uns selbst. Nie ist die Stille absolut. Es gibt immer irgendwelche Geräusche, manchmal sind sie ganz fein. Diesen feinen Geräuschen zuzuhören, verfeinert uns. Überhaupt werden wir verfeinert durch alles Feine und Zarte, mit dem wir uns beschäftigen. Und durch Grobes werden wir vergröbert. Wir sprechen von Stille, wenn das Hörbare kaum mehr wahrnehmbar ist. Das ist die äußere Stille. Wenn wir ganz Ohr sind, sind wir ganz präsent, ganz in uns und das ist die innere Stille.
Empfehlung für den Alltag – Hörübung
Folge mit deiner Aufmerksamkeit auf einer wenig befahrenen Straße den Geräuschen eines herannahenden Autos. (Wenn du an einer solchen wenig befahrenen Straße wohnst, kannst du auch von drinnen darauf hören.) Nimm wahr, wie das Geräusch immer lauter wird, dann am lautesten ist und wie das Geräusch klingt, wenn das Auto sich entfernt und wie es allmählich verklingt. Schließlich ist es still. Lausche auf diese Stille.
Die gleiche Übung kann man bei Flugzeuggeräuschen machen.
Wenn Du eine Klangschale hast, schlage sie an und lausche auf den Ton, nimm wahr, wie er immer leiser wird. Versuche hinzuhören, auch wenn der Ton kaum hörbar ist. Wenn der Ton verklungen ist, lausche auf die Stille. Der verklungene Ton oder das verklungene Geräusche macht die Stille deutlicher.
Lausche eine Weile auf alle Geräusche im Raum und auf die Geräusche, die von außen in den Raum dringen.
Höre Musik und gehe mit jedem Ton mit. Höre die Musik am besten im Liegen.