„Solang du nach dem Glücke jagst, bist du nicht reif zum Glücklichsein, und wäre alles Liebste dein.“ (Hermann Hesse)
„Andre haben Zwecke, Ziele; mir genügt es schon zu leben.“ (H. Hesse)
Immer wieder hört man, dass Meditation ebenso wie Psychotherapie dazu führen können, dass man ständig um sich selbst kreist. Tatsächlich besteht diese Gefahr. Unter welchen Umständen? Und – zunächst einmal – was bedeutet: um sich selbst kreisen?
Der Psychologe Steve Ayan hat u. a. ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Hilfe, wir machen uns verrückt – der Psychokult und die Folgen“ In einem Interview beschreibt er das Um-sich-selbst-Kreisen so:
Da ist das ständige Kreisen um die Fragen: „Nutze ich meine Chancen? Mache ich das Beste aus mir? Was, wenn ich mich jetzt für diesen einen Job, Partner oder Handy-Vertrag entscheide, und dabei könnte es einen viel Passenderen für mich geben? Wir zerbrechen uns den Kopf darüber, wie wir das Bestmögliche aus allem herausholen. Das raubt uns die Ruhe und Gelassenheit, um zu erkennen, was wir eigentlich haben… (Sogenannte) Maximizer wollen unter allen Optionen immer die beste finden. Sie werden häufiger depressiv, weil sie beständig das Gefühl plagt, nicht die beste Chance genutzt zu haben. Ich glaube, dass wir uns oft zu sehr mit uns selbst beschäftigen. Die ständige Konzentration darauf, wie es mir geht, ob mir mein Job die Erfüllung bringt, oder ob ich mit dem richtigen Partner zusammen bin, führt letztlich dazu, dass ich immer unzufriedener werde. Studien belegen, dass Menschen, die sich stark darauf konzentrieren, zufrieden zu sein, letztlich weniger Zufriedenheit erleben. Wer ständig darauf achtet, ob er auch ja glücklich ist, nimmt viel stärker wahr, wenn er es mal nicht ist.“
Dabei geht es nicht um die zeitweilige Reflexion über sich selbst und das eigene Leben, die besonders in Krisenzeiten auftritt. Es gibt Zeiten, da ist es nötig, um sich selbst zu kreisen, um eine Neuorientierung zu finden und sich zu fragen: Wer bin ich, was will ich wirklich, wie geht es mir, was fühle ich? Eine zu starke Innenschau jedoch kann die Egozentrik verstärken. Obwohl es auf dem spirituellen Weg darum geht, nicht ständig um das eigene Ich zu kreisen, kann die Egozentrik genau durch spirituelle Praktiken verstärkt werden. Man fragt sich: „Meditiere ich richtig? Bin ich auf dem richtigen Weg? Müsste ich nicht schon weiter spirituell sein?“
Ich las einmal bei Thich Nhat Han, dessen Hauptanliegen bekanntlich die Achtsamkeit ist, dass er sogar versucht, während er seine Bücher oder Gedichte verfasst, sich dessen bewusst zu sein, dass er schreibt. Das halte ich für eine Spaltung der Aufmerksamkeit und eine ungesunde Konzentration auf das Ich, auf das Ich-tue-jetzt-dies-und-jenes. Ich fand meinen Eindruck in den Worten eines buddhistischen Abtes namens W. Rahula bestätigt. Dieser schreibt: „Achtsamkeit oder Gewahrsein bedeutet nicht, dass Sie denken und sich bewusst sein sollten: ‚Ich tue gerade das‘ oder ‚Ich tue gerade jenes‘. Nein – ganz im Gegenteil. In dem Moment, in dem Sie denken: ‚Ich tue gerade dies‘, werden Sie selbstbefangen, und dann leben Sie nicht in der Handlung, sondern Sie leben in dem Gedanken: ‚Ich bin!‘ und infolgedessen wird auch Ihr jeweiliges Werk ruiniert. Sie sollten sich vollständig vergessen und sich in dem verlieren, was Sie tun.“
Diese Worte halte ich für segensreich. Außerdem zeigen Sie doch, dass große spirituelle Meister durchaus Gegensätzliches lehren können und man nichts unhinterfragt annehmen sollte, nur weil es ein spiritueller Meister gelehrt hat. Und auch spirituelle Meister sind Menschen und können sich irren.
Es geht also um Selbstvergessenheit. Auch dazu sagt Steve Ayan etwas Aufschlussreiches: „Wir leben sicher in einer Zeit des Bewusstseinskults. Alles wollen wir bewusstmachen: bewusst entscheiden, bewusst essen, bewusst atmen. Ein Konsumententypus steht exemplarisch dafür: Die Lohas – abgekürzt für Life of Health and Sustainability (zu Deutsch: ein gesundes, nachhaltiges Leben). Lohas sind Perfektionisten, die sich ständig selbst beobachten im Streben nach dem großen Glück und dem perfekten Ich. Kein Mensch will Probleme haben, das ist vollkommen natürlich. Aber negative Gefühle erscheinen uns in unserer auf Leistung und Effizienz getrimmten Gesellschaft nicht länger hinnehmbar… Ich empfehle mehr Selbstvergessenheit, denn selbstvergessen lebt es sich leichter. Das ist zugegebenermaßen zunächst eine paradoxe Aufforderung so wie: Nimm dir vor, spontan zu sein! Aber wir können uns solche Momente, in denen wir komplett abschalten, bewusst schaffen. Etwa indem wir uns verabreden, Sport machen, Musik hören, Yoga machen oder einfach in den Bus setzen und durch die Stadt treiben lassen. Momente, in denen wir uns hingeben können, Momente, die nicht „genutzt“ werden müssen. Wenn ich nicht ständig um mein Problem kreise, erscheint es mir vielleicht auch nicht mehr so gravierend. Es lohnt sich, das zumindest auszuprobieren. Der Schuh drückt eben umso mehr, je stärker ich mich darauf konzentriere.“
Wenn man z. B. unter Tinnitus leidet und immer wieder nach innen hört, dann stört das Ohrgeräusch noch viel mehr oder ein drückender Schuh schmerzt mehr, wenn wir darauf achten. Oder wenn man unter Schlafstörungen leidet und sich beim Einschlafen damit beschäftigt, wie man es doch am besten schaffen könnte einzuschlafen, dann wird man wachbleiben. Eine vorhandene Depression verstärkt sich, wenn wir nach innen schauen zu dem depressiven Gefühl hin und uns dort länger aufhalten anstatt gleich nach außen zu schauen und nach außen aktiv zu werden.
Im Grunde empfiehlt auch Ayan meditatives Tun, aber ohne den Hintergedanken: „Und – fühle ich mich jetzt auch glücklich?“ Steve Ayan selbst hat sich damit zufriedengegeben, dass er nie exakt so sein wird, wie er gern wäre. Und er sieht auch das Bemühen darum, alles bewusst auszuführen, bewusst zu essen, bewusst zu atmen usw. als problematisch.
Meine eigene Erfahrung ist die, dass Menschen, die den Atem kontrollieren wollen, auch das Leben kontrollieren möchten. Viele Menschen, die in Yogakursen Atemübungen gelernt haben, können nicht mehr natürlich atmen, wenn sie Meditation erlernen, weil man sich dabei auf den ganz natürlichen Atemfluss konzentriert.
Der Anspruch, (fast) immer achtsam sein zu sollen oder zu müssen, kann zu Stress führen. Wird das Bemühen um Achtsamkeit anstrengend, bedeutet das, dass wir an der Achtsamkeit an sich festhalten und somit selbstbefangen sind. Es bedeutet, wir sind unzufrieden mit uns selbst, wir haben den Eindruck, unserem Ich-Ideal nicht zu entsprechen, wir sind also im Ich befangen. Wir machen uns zudem unglücklich, indem wir mit einem schlechten Gewissen durch den Tag gehen, das daher rührt, weil wir es nicht geschafft haben, unsere Arbeiten achtsam auszuführen.
Keinesfalls, so rate ich in Übereinstimmung mit den Worten von W. Rahula, sollten wir Achtsamkeit in der Weise praktizieren, dass wir permanent versuchen, ganz bewusst unser Handeln wahrzunehmen: „Jetzt bügle ich, jetzt rieche ich an der Blume“ – nein: Wenn wir wirklich achtsam sein wollen, dann ist es gut, wenn wir aus uns herausgehen, indem wir die Schönheit einer Blume sehen und ihren Duft wahrnehmen. Wir bügeln und fühlen die Wäsche, den Dampf, wir hören die Geräusche. Wir nehmen die Sinneseindrücke auf, wir gehen sozusagen von uns weg in die Außenwelt und so werden wir selbstvergessen oder besser gesagt: ich-vergessen.
Für Menschen, die sehr stark im Außen leben, kann es förderlich sein, sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen, also durchaus einmal gewissermaßen um sich selbst zu kreisen. Aber gerade in der „spirituellen Szene“ besteht eher die Gefahr einer zu starken Innenschau, einer zu starken Selbstbeobachtung.
Das gilt mindestens genauso für Menschen, die eine lange Psychotherapie durchlaufen haben. Gerade eine Psychoanalyse kann ja bis zu zehn Jahre dauern mit wöchentlich zwei bis drei Sitzungen. Hier ist die Gefahr besonders groß, nach einer so lange andauernden Phase der Innenschau nicht mehr von sich selbst loszukommen.
Die übersteigerte Innenschau macht nicht glücklich, im Gegenteil: Es ist die Selbstvergessenheit, die glücklich macht. Selbstvergessenheit, so sagt uns der Glücksforscher Czikszentmihalyi, lässt unser Ich vorübergehend verschwinden, danach taucht es wieder auf, und der Mensch fühlt sich gestärkt, glücklicher und mehr in seiner Mitte. Nicht die ständige Suche nach Glück macht glücklich, sondern wenn wir den Gedanken loslassen: „Ich müsste doch eigentlich glücklich sein, warum bin ich jetzt so traurig, so ängstlich, so unzufrieden“, wenn wir solche Gedanken und Gefühle loslassen, dann können wir glücklich oder zumindest zufrieden werden, zumindest eine Weile. (Positive Gefühle bleiben sowieso kürzer als negative.)
Und manchmal ist es auch sinnvoll, nicht nach den Ursachen der unerwünschten Gefühle zu suchen, vor allem dann nicht, wenn sie einem rätselhaft erscheinen. Was allerdings bei plötzlich auftauchenden belastenden Gefühlen helfen kann, ist die Frage: „Welchen Gedanken hatte ich gerade kurz bevor dieses Gefühl aufgetaucht ist?“ Manchmal ist es nämlich nur ein einziger Gedanke, der ein unangenehmes Gefühl hervorruft, und holen wir ihn in die Erinnerung, merken wir, was er angerichtet hat. Wenn es uns dann gelingt, den Gedanken zu entschärfen, wird sich auch das unangenehme Gefühl auflösen.
Ich meine, Achtsamkeit sollte nicht forciert geschehen. Anstatt ständig zu versuchen, achtsam zu sein, ist es ratsamer, die Augenblicke nicht zu übergehen, in denen wir gerade nichts zu tun haben. Diese können wir als Gelegenheiten nutzen, still zu sitzen, zu schauen, zu lauschen und einen Duft in uns aufzunehmen anstatt die Zeit sofort mit Aktivität oder einer Geräuschkulisse auszufüllen.
Solche bewussten Momente sind etwas Anderes als die übersteigerte Selbstbeobachtung, die ungesunde Beschäftigung mit den eigenen Problemen, das Grübeln, sich Sorgen machen, ständig Gefühle analysieren wollen, immer und überall das Beste für sich herausholen wollen, sei es geistig oder materiell.
Meditation kann ebenfalls eine zu starke Selbstbeobachtung und Beschäftigung mit sich selbst verstärken, wenn man in einer ichzentrierten Haltung in die Meditation geht. Es kommt immer darauf an, in welcher Haltung man in die Meditation geht, inwieweit man selbstverliebt ist oder aber von sich selbst absehen kann. Selbstverliebtheit kann sich verstärken, wenn sie nicht durchschaut wird und man sich stark mit dem eigenen Innenleben beschäftigt.
Darum geht es ja in der Meditation: von sich selbst absehen. Nicht in den Gedanken und Gefühlen hängenbleiben, sondern sie zwar schon wahrnehmen, aber sie immer wieder loslassen. Im Kreisen um sich selbst lässt man sich nicht los, anders gesagt: Man kommt nicht in die Mitte, sondern man kreist ständig wie in einem Karussell am äußeren Rand.
Menschen, die Meditation praktizieren und eine höhere Macht über sich annehmen und anerkennen, haben es leichter, nicht in sich selbst hängenzubleiben, vor allem wenn die Meditation einen Bezug zu dieser höheren Macht hat. Antoine de Saint Exupery sagte: „Wenn nichts über dir ist, hast du nichts zu empfangen. Außer von dir selbst. Was aber erhältst du schon von einem leeren Spiegel?“ Das Ich als ein leerer Spiegel. Er ist leer, wenn sich nichts Anderes in ihm spiegelt.
Bei Körperwahrnehmungsübungen gibt es auch zwei sehr unterschiedliche Weisen: Durch achtsame, bewusste Körperwahrnehmung kommen wir in die Mitte. Etwas Anderes ist es, wenn wir auf den Körper wie ein Hypochonder fixiert sind. Es kommt also darauf an, wie wir auf den Körper blicken, und es ist auch eine Frage des Maßes. Wir sind ja auch dadurch in der Mitte, dass wir Extreme vermeiden.
Bei einer starken Neigung zur Innenschau, die leicht zu Depression führen kann, hat Viktor Frankl eine Methode eingesetzt, die er Dereflexion nannte. In der Dereflexion wird die Aufmerksamkeit von den hochgradig reflektierten Vorgängen abgezogen und auf Sinnmöglichkeiten hingelenkt. Dereflexion soll nicht dafür verwendet werden, Probleme wie z.B. innere Konflikte, oder Schuldgefühle zu übergehen. Man distanziert sich von seinen Stimmungen, Gedanken und Gefühlen, ähnlich wie in einer – in der rechten Haltung – geübten Meditation. Durch die Dereflexion sollen wir aus der selbstschädigenden Selbstbeobachtung herauskommen und wieder zu einer größeren Offenheit zurückfinden, zur Selbst-Transzendenz, anders gesagt: zu Selbstvergessenheit und zum Von-sich-selber-Absehen.
Der Psychologie Ralph Schlieper-Damrich sagt über Viktor Frankls Therapie, die sich Logotherapie nennt: Das eigene Ego wird vergessen, und man gewinnt die Fähigkeit, „einen Beitrag für etwas oder jemanden zu leisten, der man nicht selbst ist. Selbstvergessenheit ist eine hohe Kompetenz – sie bewahrt den Menschen davor, zu viel Augenmerk auf sich, seine Probleme, Störungen oder die Krisensituation zu lenken. In einer solchen Form der ‚Hyperreflexion‘ (Um-sich-selber kreisen, eigene Anmerkung) gedeihen letztlich Spiralen der Angst, der Selbstwertminderung, des Rückzugs und vieler anderer psychischer Symptome…“
In der Logotherapie wird daher angestrebt, die Person von ihrer übermäßigen Selbstaufmerksamkeit zu lösen, also eine Dereflexion herbeiführen. Dazu wiederum braucht es einen guten Ersatz, der die frei gewordene Aufmerksamkeit erhält. (Eigene Anmerkung: Die Aufforderung „schau nicht ständig zu Dir hin“ genügt nicht, denn die Aufmerksamkeit braucht einen Ersatz und muss woanders hingelenkt werden.) ‚Hin zum Sinn‘ ist dabei die erwünschte Richtung. Findet der Mensch Sinn, kann die ständige Selbstbeobachtung, das übermäßige Grübeln, die Schlechtrede in eigener Sache usw. aufhören. Es ist nun die therapeutische Kunst, beides zu schaffen, einen Prozess der Dereflexion einerseits und einen Prozess der Sinnfindung andererseits.“
Zusammenfassend gesagt: Weg vom Kreisen ums Ego hin zu einer Aufgabe, in der der Mensch Sinn erfährt. Viktor Frankl sagt: „Nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache – oder in der Liebe zu einer anderen Person … Ganz er selbst wird er, wo er sich selbst übersieht und vergisst.”